Taeguk

Mittagszeit. Rush hour.
Während Orij und die Kinder damit beschäftigt sind, die komplett überfüllte Bar mit Essen und Getränken zu versorgen, habe ich mich in der Ausnüchterungszelle verbarrikadiert und werte die Beobachtungen von Wadar und mir aus.
Fruxj hat die Diskussion angepisst und er hat sich auch nicht vorbereitet. Er hat auch nicht versucht, dies irgendwie zu überspielen. Mit seinen 19 Jahren ist er der Drittälteste. Ich überlege kurz, dann notiere ich mir eine "1/2" auf die Schiefertafel.
Navarr hat sich vorbereitet und hat auch Gas gegeben, doch er hat sich von Fruxj mitreissen lassen. Er ist der Älteste. Er hat neben mir am Meisten Verantwortung und auch den Respekt der Anderen. Er hätte sich die Schwäche nicht leisten dürfen. Kurzes Gekritzel. "3/4".
Ikyo hat sich gut retten können. Sie hat sich nicht vorbereitet, sie hat ihre eigenen Thesen aufgestellt. Sie hätte mehr recherchieren sollen, dann hätte sie Fruxj und Navarr keine Angriffsfläche geboten. Nicht übel für 22, aber eine Pressekonferenz hätte sie dennoch nicht überlebt. "3/4". Ich stocke kurz, wische es weg und mache eine "1" draus.
Anijq. Ich halte kurz inne. Er ist sehr scheu und nicht besonders intelligent. Um offen zu sein - Ohne ihn, Wadar und Rasha müsste ich keine Rücksicht nehmen sondern könnte die Kinder so erziehen, wie ich damals erzogen worden bin: Genau aktuelle politische Geschehnisse verfolgen, reflektieren, schreiben, korrigieren, Romane lesen, Grammatik durchhauen, noch mehr reflektieren, hohe Erwartungen erfüllen versuchen, immer 100% geben, nach den Sternen greifen wollen. Daenasha hätte das bestimmt gut gekonnt, sie war die Intelligenteste von allen. Ar und Karai waren auch nur im Weg. Ich fokussiere mich wieder auf meine Arbeit. Anijq hat sich sehr gut vorbereitet, liess sich aber verunsichern. Ich überlege rasch. Er ist... 18. Er hat sich selbst übertroffen. "1 1/2".
Bei Wadar kritzle ich ein kurzes "1".

Ich verlasse den Raum, quetsche mich zur Theke hindurch und verlange von Orij fünf Portionen des Frasses, den uns Ethertec mittlerweile zwei Mal täglich einfliegen lässt. "Gib Rasha die volle Portion", rufe ich dem sich abwendenden Androiden hinterher.
In der Bar herrscht eine Bombenstimmung, im wahrsten Sinne des Wortes. Es haben sich kleine Stammtischrunden gebildet, unter denen sich Mut zusprechende und sich umarmende Lar und Ruz fröhlich untereinander agieren. Sie wirken fröhlicher als damals, als der Feind die Direktion der Minen war und nicht die Terraner. Der Krieg schweisst die Gemüter zusammen, sie scheinen wie eine grosse Familie zu sein, die sich nach jahrelanger Suche gefunden haben.
Adariaxj torkelt durch die Menge zu mir: "He-Herr Leehher!~", lallt er, "Wiie geehts? Darf ich wiirklich nicht zurühück? Die Kleinen sind ja sooo süüüsss~~"
"Nein. Du kennst die Regeln. Du bist 25, du hast hier nichts mehr verloren"
"Kommen Sie schoon, wir alle, aaallllleee, wissen dass Sie ein nacktes Herz haben~"
"Weiches Herz."
"Jahhh... Hehe, weiiiches Herz", er hakt sich kumpelhaft bei mir ein und drückt zart mein Handgelenk, als würde er mir seine Liebe gestehen wollen.
Ich reisse mich los und verpasse meinem ehemaligen Schüler eine Schelle, die sich mehrfach gewaschen hat.
Die gesamte Bar hält inne. Orij lässt vor Schreck den Beutel mit den Rationen fallen, die er soeben aus dem Vorratsraum geholt hat. Adariaxj bleibt einige Momente in seiner Starre, ich verziehe meine Mine nicht. Sein Kopf wendet sich um und er starrt mir glasig in die Augen. Erleichtert nehmen die Barbesucher das treiben wieder auf, Orij sucht das Essen am Boden zusammen.
"Ich habe sehr viele Leute töten müssen", sagt er vollkommen nüchtern. Mit noch immer leerem Blick wendet er sich wortlos ab und verlässt die Bar.

"Er wollte es.", sagt Orij als er die Rationen endlich wieder zusammen hatte und sich in leicht schuldiger Haltung (wie gut das halt für einen Androiden ging) an die Theke gestellt hat.
"Was"
"Die Pillen"
Ich stutze. "Die Pillen sind allein für mich designt worden, die kannst du nicht als Almosen Wildfremden verschenken. Ich bin Ishtar, vergessen?"
Die Drohne gibt sich einen Ruck "Weisst du was? Verarsch mich nicht. Ich habe dir von Anfang an gesagt dass ich weiss, dass du nicht Ishtar bist. Die Kinder nennen dich nicht so, du hast kein Exoskelett und der Doktor wird dich bestimmt nicht SO übel entstellt haben. Ich habe die Biografie Ishtars studieren müssen, bevor ich hierhergekommen bin, also lass diese sinnlosen Spielchen. Ich habe vorgestern die Datenbanken der meistgesuchten Verbrecher zwischen 40 und 60 durchsucht und niemanden gefunden, der dir ähnelt, warum versuchst du dich also vor mir zu verstecken?"
"Warum... die meistgesuchten Verbrecher?", frage ich, während sich ein dicker Kloss in meinem Hals bildet. Exoskelett? Doktor? Biografie?
"Weil du mir ansonsten schon längst deinen Namen verraten hättest. Und ich die Propaganda nicht hätte abhängen müssen. Und die Art wie du rumläufst. Man muss wirklich blind sein um nicht zu merken dass du Ethertec nicth magst."
Ich fletsche die Zähne "Was, wenn ich einfach so nicht will, dass du weisst wer ich bin, du kleiner Sklave Ethertecs?!"
Der Androide wendet sich einem alten Ruz zu, der neben uns abwesend an einem Wässerchen nippt "Oi. Wie heisst der Kerl da?"
Verwirrt wendet er sich uns zu. "Daigok", sagt der im breitesten, unverständlichstem ruz'schen Akzent, den ich je gehört habe und widmet sich wieder seinem Wässerchen. Ich grinse verschmitzt während die Lautsprecher des Androiden ein lautes Schnauben von sich geben.
"Abgesehen davon", sagt Orij wütend während er mir endlich die Rationen überreicht "mag ich dein Notensystem nicht"
Ich reisse ihm mit bösem Blick den Beutel aus der Hand, rufe "FRUXJ!" in den Saal und verschwinde in der Ausnüchterungszelle.

Ich zeige ihm die "1/2" die ich auf der Tafel notiert hatte "Du hast dich weder vorbereitet noch Mühe gegeben. Ich war gnädig, weil ihr gesten tatsächlich keine Zeit hattet, aber sieh das als Warnung" Ich halbiere vor seinen Augen die Ration "Morgen gibt es eine Podiumsdiskussion über die Legalisierung von Shitanzusätzen, du bist Contra."
"Nein."
"Was Nein"
"Ich mach da nicht mehr mit. Wir machen seit zwei Wochen nichts anderes. Es ist langweilig, es hat nichts mit der Realität zu tun."
"Woher willst du Unkraut wissen was die Realität ist?"
"Schauen Sie doch raus! Ich werde nie in meinem ganzen Leben jemals in die Situation kommen, etwas so Unnötiges wie eine Podiumsdiskussion über die Legalisierung von Weissnichtwas zu führen!"
"Was glaubst du, ist deine Bestimmung, huh?"
"Terraner töten!", ruft Fruxj überzeugt "Navarr hatte Recht. Meine Eltern sind gestorben, weil sie hirnverbrannte Pazifisten waren. Sie haben sich für Frieden zwischen den Terranern und den Lar ausgesprochen und wurden bereits am ersten Tag des Bürgerkrieges getötet. VON TERRANERN." Sein Hass lodert auf "'Fuck the space lizards' haben sie geschrien. Ich bin weggerannt, mich haben sie nicht gesehen. Ich weiss noch immer nicht, was das heisst, aber überall, wo ich durchrannte, wurde das geschrien und an Wände gesprayt - auf Terranisch und auf Universal" seine kleinen Fäustchen sind geballt und er fiept unuterbrochen, während seine Stimme immer höher wird "Lernen Sie uns wie man RICHTIG mit Waffen umgeht. Töten wir diese Bastarde. Ich will jeden einzelnen Terraner in der Hölle brennen sehen. JEDEN EINZELNEN. Ich will einen Androiden wie Orij und die Glieder dieser Nacktratten einzeln ausreissen und verbrennen. Das Fegefeuer sollen sie im Diesseits noch erleben, nicht erst, wenn sie schon gestorben sind. Bitte, ich flehe Sie an, ich will auch die Abenteuer erleben von denen die Gäste in der Bar erzählen! Bitte!!" Er fiept wie blöd und seine Augen glänzen vor Hass und Rachesucht. Diesen Ausdruck habe ich zu oft gesehen als dass ich ihn noch ernst nehmen könnte. Zudem sehen glänzende Augen in seinem Alter mehr Süss als wirklich furchterregend aus.
Aber seine Rede war gut. Ich viertle die übrige Ration und halte sie Fruxj wortlos hin. Seine Begeisterung fällt mit einem Schlag ins Bodenlose.
"Wir... werden es nicht tun?"
"Bereite dich gut auf morgen vor"

Xarj, etwa 16 Monate nach der Flucht aus der terranischen Station

"Atmen Sie tief ein - tut das weh?", die Physiotherapeutin drückt an einer Naht an meinem Bauch rum.
"Es kitzelt", antworte ich
"Gut, dann treffen wir uns morgen um dieselbe Zeit wieder. Ich hoffe, Sie haben das Post-it noch"
"Keine Angst, ich nehme keine Post-its weg" - das ist mittlerweile zu meiner Standartphrase geworden. Immer wenn jemand mir sagt, ich solle etwas merken, antworte ich ihm dies.
Auch wenn ichs noch niemandem gesagt habe - ich erinnere mich nach meinen Black-outs an die Post-its. Ich hätte es schon lange meinem Kommandanten melden sollen, doch ich habe kein Interesse daran, richtig im Krieg mitzumischen, Futterdrohnen rumzukutschieren reicht vorrätig. Zudem - ich erinnere mich nur an die Post-its, das bringt mir nichts.

Heute ist die Generalversammlung unserer Abteilung. Einmal alle zwei Wochen gibt es eine Motivationsrede unseres Offiziers, in dem er versucht die Soldaten wieder aufzubauen. Ich wäre schon mehrere Male dort gewesen hat mein Nachbar behauptet. Erinnern konnte ich mich an keine.
Wir marschieren in einen nüchternen Saal, dessen Decke nur wenig höher ist als die der Krankenstation. Der Offizier gestikuliert passioniert, als er seine Tiraden seinen Soldaten an den Kopf wirft, die teils mit lauten "Jawoll!"-Rufen bestätigt werden.
Dass ich klein bin, wusste ich bereits. Doch dass eine recht grosse Lar direkt vor mir steht, stört mich gewaltig. Diese Rede ist die einzige Abwechslung meines tristen Alltags und dann steht mir dann solch ein Riesenvieh vor der Schnauze das mir die Sicht versperrt.
"Du stehst mir im Weg", sage ich in ihre Wade tretend. Sie dreht sich ihre Fäuste ballend um und wir beide halten sofort inne.
Anirasha...?