ishtar. 389 AF. Irgendwann, irgendwo.

Vielleicht war es die Stille, die ihm Angst machte. Wie sie warteten, ihn ansahen.
"Bewegen Sie ihre linke Hand, Ishtar." Die Stimme des Doktors war leise, ein Flüstern, erfüllt von Erwartung und Hoffnung. Er massierte seine schuppigen Falten an seiner Kehle wieder, drückte sie zwischen seinen Fingerspitzen umher, bohrte seine Krallen ins das fleischig-fettige Gewebe, sodass tiefe Abdrücke entstanden, die erst kurz danach wieder verschwanden.
Ishtar sah hinunter auf seinen rechten Arm, sein Kopf leicht zur Seite gekippt. Er spürte die kalten Kabel, die sie im in den Nacken gesteckt hatten, ein Wulst aus schwarzem Gummi und Drähten, der wie ein Zopf seinen Bewegungsapparat abtasten sollte. Sein Blick streifte seinen Körper, sie hatten ihn komplett entkleidet, er spürte den lauwarmen Windzug im gedimmten Raum auf seiner Haut. Beigefarbene Schuppen, dunkelbraune Flecken und Streifen. Er hatte gesehen, wie der Doktor ihn angestarrt hatte, als er ihn gesehen hatte - wie ein nasser Sack hing Ishtar auf dem Stuhl, benebelt von einem Cocktail aus Drogen und Narkosemitteln. Krorin hatte sich die Lippen geleckt, als er hineingekommen war. Widerlich. Er verspürte so etwas wie Scham, jedes Mal wenn der Blick des Doktors oder einer der anwesenden Personen in Kitteln zu ihm wanderte.

Er bewegte seine linke Hand, langsam, formte eine Faust. Nichts.
"Rechts, Ishtar, rechts."
Rechts, rechts. Eine Faust formen. Nichts. Er spürte, wie sich seine Krallen in das Fleisch seiner Handfläche bohrten, ein stumpfer Schmerz, weit weit entfernt. Er ließ wieder los.
"Ishtar." Der Doktor tätschelte seine Wange. "Nicht. Bewegen." Er lehnte sich wieder zurück, seine Hand wanderte wieder an die Falten an seiner Kehle. "Aktivieren."

Ein kurzer, elektrischer Stoß durchfuhr ihn, zog von oben bis unten in das letzte Ende seiner Gliedmaßen. Er spürte, wie etwas ansprang, wie sein Blick schummrig wurde, seine Augenlider schwerer wurden...
Dann war es weg. Er fühlte nichts mehr außer das Dröhnen in seinem Kopf, wie jedes einzelne Molekül der Drogen seine Neuronen benebelte und gegen seine Schädeldecke hämmerte.
Es war wieder still, die ganzen Leute hatten innegehalten. Ishtars Blick war irgendwo über ihn gerichtet, in eines der grellen Lichter, welches von der Decke hing. Die Transfusion sprang wieder an, er fühlte, wie frisches Blut in seinen Arm gepumpt wurde, ein Strom, der sich in seine Adern ergoss.
"Ishtar." Der Doktor lehnte sich nach vorne. Hinter ihm stand, hinter einer Glasscheibe, eine Roboterhand, die sie einer der Drohnen abmontiert hatten. Auch aus ihr wuchsen Kabel hervor, in allen Farben, die sich wie eine Flut von Würmern auf die glatte Fläche des Tisches ergoss, auf der sie stand. Etwas dahinter lag ein seltsamer Apparat, langgestreckt und geformt wie eine Wirbelsäule, unterteilt in einzelne Segmente, in die die Kabel jeweils mündeten. Der Doktor leckte sich wieder seine Lippen. "Bewegen..." Er stockte. Aufregung. "Bewegen Sie die linke Hand."
Links, Faust. Stumpfe Schmerzen. Ishtar sah die Hand hinter Krorin, unscharf und durch die Lichtreflexe in der Scheibe überdeckt. Nichts geschah.
Der Doktor holte Luft. "Rechts."
Rechts, Faust. Eigentlich spürte er nichts, nur wieder dieses stumpfe Gefühl in seiner Hand, dieses Bohren in den Untiefen seines Gehirns.

Die Roboterhand ballte sich zur Faust, und die mechanischen Gelenke traten hervor, als sie sich ruckartig schloß.
Heureka. Thalamus ist angekommen.

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Sie stand vor ihm, inmitten ihres Zimmers. Ihre frisch gewaschene Kleidung ruhte auf ihren Unterarmen.
"Er... er hat..." Das Stottern wieder. Schweigen. "Wir können das nicht." Er sah auf, in ihre Augen, die Distanz zwischen ihnen, wie er ihm Türrahmen stand.
Sie warf ihre Wäsche auf den Boden. "Was er meint, ist mir scheißegal, Ishtar, okay?" Wut. Sie zeigte auf ihn, war näher gekommen, ihr Gesicht kurz vor seinem. Ihre Hand zitterte.
"Bitte..." Er wollte das nicht, nicht jetzt.
"NEIN!", schrie sie, sie presste ihren Finger auf seine Brust. Die spitze Kralle bohrte sich in sein Fleisch. "Nur weil dieser Mistkerl meint, ich würde zu ihn gehören, heißt dass nicht, dass ICH nach seiner Pfeife tanze!" Sie kam noch näher. Er sah, wie ihre Augen zitterten, wie sie in den Augenhöhlen leicht wackelten, hin und her. "ICH. Ishtar, verdammt, ICH sitze am längeren Hebel! Du weißt das. Was ist, kann er nicht zunichte machen, nur weil er selbst es sich nicht eingestehen kann!"
Er wandte seinen Blick ab und schwieg. Ihr Atem war schwer, zittrig, er spürte die pulsierende Wärme in der Luft, die sie umgab. Ihr Gesicht war kurz vor seinem, und doch sah er vorbei.
Ruckartig griff sie auf die Rückseite seines Kopfes, riss ihn zu sich hin. Ihr Nasenspitzen berührten sich, er fühlte, wie ihr Mund leicht geöffnet war, die schmalen Echsenlippen etwas auseinander, sodass er ihren Atem spürte.
Sie sagten beide lange nichts, verharrten in der Position irgendwo zwischen Tür und Raum.
Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit flüsterte sie: "Niemand kann uns trennen, Ishtar." Sie zog ihn mit sich in ihr Zimmer.

ishtar.

Die Warnung für meine Posts ist ab jetzt obligatorisch - Gewalt, Sprache, Sexualität, Kriegsverbrechen, Ekel... volle Breitseite!

Die Arkaden des Larmarktes waren das Ergebnis einer jahrelangen Entwicklungszeit gewesen.
Anfangs, als die Siedlung im Krater eröffnet worden war, hatten die Lar noch all ihre Stände an dieser Stelle unter wallenden Stoffbahnen aufgebaut. In ihrer leichten sommerlichen Kleidung waren sie vor ein paar Jahren noch dort gestanden, im roten Dreck zwischen ihren Füßen, und hatten das auf dem boden ausgebreitet, was sie verkauften - alten Schrott, elektronische Komponenten, mickrige Nahrungsmittel. Irgendwann hatten manche Lar begonnen, ihre Stände mit Wellblech zu fixieren, wackelige Konstrukte aus Metall und Stoff. Da es weit und breit keine Bäume in der Wüste gab, mussten andere Materialien herhalten. Und noch später hatten andere begonnen, ihre Stände in Beton zu gießen und brüchigen alten Fliesen zu bekleben. Aus dem roten Sand der Wüste wurde mit etwas Beihilfe ein rötliches Wirrwarr aus Ständen, die kreisförmig um den zentralen Marktplatz sich befanden, und teilweise fast wie Bauklötze übereinander gestapelt waren, alte Container über Betonklötzen, bunte, aber langsam abröckelnde Fliesen aus entkernten Badezimmern neben rostigem Wellblech, Baugerüste neben festen Steintreppen, die das Chaos unter sich verbanden. Die Arkaden - ein einziges Wirrwarr, entstanden aus dem, was sich in der Siedlung finden ließ.

Ishtar trat hinein unter eines der Wellblechdächer vor einer Ansammlung von ehemaligen Lebensmittelständen. In ihnen türmten sich Kisten mit Waffen, aus denen die einzelnen Patronen als lange Ketten hinausquollen, direkt daneben lagen, akurat in Schaumstoffboxen eingearbeitet, Ersatzteile für die Drohnen. Früher, ja, noch vor ein paar Tagen, hatten hier auf metallen Tischen, die man aus alten OP-Sälen geklaut hatte, allerhand Lebensmittel gestanden, sortiert in staubige Plastikboxen. Die langen, dünnen Kurjabohnen, knollige violette Nashak-Zwiebeln oder das Gewirr aus Tsurdu-Fleisch, das sich auf der mechanischen Waage gestapelt hatte, lange, dünne Fasern aus Fleisch, die sich von selbst zu Klößen verdrehten, wenn man sie auseinanderschnitt.
Übrig davon waren nur noch die Plastikboxen, in denen sich nun in Öl getünchte defekte Metallteile ansammelten, die die Anak aus den Drohnen ausgebaut hatten. Die Hydraulikflüssigkeit lief aus der Box hinaus, es bildeten sich widerlich stinkende rötliche Pfützen auf dem staubigen Boden.
Unter dem Wellblechdach vor dem ehemaligen Supermarkt hatte man einen der zweckentfremdeten OP-Tische herausgeschoben, hinaus unter das Dach aus Metall, durch das Licht der Morgensonne durch kleine Löcher hindurchschien. Über dem Tisch schwebte eine holographische Karte des Kraters, genauso wie ein schweres Maschinengewehr, das neben dem Apparat lag, das das Hologramm erzeugte. Hinter dem Tisch stand der Captain - oder vielmehr, die Drohne des Captains. Sie sah fast genauso aus wie alle anderen, Echsen aus Stahl, verdrehte Polymermuskeln und Hydraulikkolben, schwere Metallplatten, dazu kamen jedoch noch zahllose Abzeichen, Aufkleber, die schweren Schulterplatten und die leicht orangenen Akzente, die sich überall auf der Drohne widerfanden. Einer der Aufkleber zeigte einen Menschen, über dem ein stilisierter Lar thronte, seine Klauen bohrten sich in den Bauch des Menschen, und der Mund der Echse war blutverschmiert. Begleitet wurde das ganze von einem Spruch in der Lar-Sprache: "Blut muss fließen." Ishtar ekelte sich. Egal wie sehr man die Menschen verabscheuen würde, ihr Fleisch würde er sicher nicht essen wollen. Der Captain hingegen - wenn er die Gelegenheit hätte, bestimmt.

Die Drohne drehte sich zu ihm, begleitet vom üblichen mechanischen Surren der Motoren. Ihre Kameras im rot leuchtenden Sehschlitz fokussierten Ishtar, der auf den Tisch zukam.
Der Captain zeigte auf seine Weste. "Sie haben da Blut." Ishtar sah hinunter auf seine Brust, als er vor dem Tisch zum Stehen kam, und ja, einige Spritzer Blut hatten sich auf seiner schwarzen Weste angesammelt. Er sah wieder auf, und sagte trocken: "Captain, Menschen bluten, wenn man sie ersticht."
Er konnte das süffisante Lachen seines Vorgesetzen hören, obwohl die Drohne keine Emotionen zeigen konnte. "Ich mag, wie Sie denken, Ishtar." Er hörte, wie sich sein Gegenüber, welches irgendwo hoch im Orbit war, sich die schuppigen Lippen leckte, wie eine in Speichel umhüllte, spitz zulaufende dicke Zunge über scharfe Reißzähne und schmale Echsenlippen fuhr.
Ishtar blieb ruhig. Der Captain war sein Vorgesetzer - nicht mehr und nicht weniger. "Sir, wenn ich fragen darf..." Er lehnte sich auf den OP-Tisch. "Mir wurde gesagt, dass mein Team hier wäre. Es gäbe da etwas zu klären. Sehr wichtig."
"Nur die Ruhe. Alles eingefädelt, Ishtar, alles eingefädelt." Die Hand der Drohne bewegte sich zu dem Maschinengewehr, streichelte mit ihrem Handrücken die Seite der Waffe.
"Mit Verlaub, Captain, aber Rashas Verhalten - "
"Rasha hat das Richtige getan.", unterbrach ihn der Captain. "Das einzig Richtige."
"Sie hat die Mission gefährdet!" Jeder normale Lar wäre jetzt schon abgeführt worden, so laut, wie Ishtar sprach. Es war fast eine Drohung an den Captain gewesen. Man. Widersprach. Nicht.
Die Drohne des Captains lehnte sich leicht nach vorne. Die Kameras fokussierten ihren Blick neu. "Ishtar. Stellen Sie sich vor, einer ihrer Brüder, ihr Partner, ein Lar, wird von einem Menschen getötet. Würden Sie nicht Rache nehmen - Auge um Auge, Zahn um Zahn?", fragte dieser leise. "Die Menschen verdienen nichts Besseres, als zu sterben."
"Captain, bitte. Sie hat sich nicht unter Kontrolle. Wir hätten sterben können, wenn jemand uns entdeckt hätte. Auch wir bluten, wenn man uns anschießt. Sogar mehr als die Menschen, verdammt."
Die Drohne lehnte sich noch ein Stückchen weiter nach vorne. "Wir sind alle Brüder im Blute, Ishtar, verstehen Sie? Wir kämpfen für unsere Rasse. Jeder Mensch weniger ist ein Sieg mehr für uns."
"Die Sicherheit der Mission muss Vorrang haben, und nicht das Gefühl, im Blute von Menschen zu baden, egal, was diese getan haben, wenn ich ehrlich sein darf." Ishtar lehnte sich auch ein Stück weiter nach vorne. "Wenn man unbedingt Frischfleisch möchte, sollte man nicht sein eigenes Leben aufs Spiel setzen, Captain, das sollten auch Sie bemerkt haben."
Die Drohne lehnte sich wieder zurück, ihre Arme verschränkten sich vor ihrer metallenen Brust. "Sie wissen, dass jeder normale Lar wegen Widerstand und Befehlsverweigerung wegen einer Aussage wie Ihrer ins Gefängnis wandern würde, bestenfalls sogar dauerhaft von der Bildfläche verschwinden würde?", höhnte der Captain. "Das Zeugs in ihrem Körper, das ganze Geld, was in Ihnen steckt, rettet Ihnen ihren schuppigen Arsch, das wissen Sie."
Ishtar lachte. "Selbstverständlich, Sir." Eigentlich wollte er noch hinzufügen, dass Menschenfleisch bestimmt widerlich schmecken würde und es bestimmt eine riesige Sauerei sein würde, ließ es dann aber bleiben. Er hatte die Bilder und Videos gesehen, wie der Captain vor ein paar Jahren im Erstkontaktkrieg sich lebende Menschen beschafft hatte und ihnen noch bei lebendigem Leib die Bauchdecke mit seinen angeschärften Reißzähnen ausgerissen hatte. Perverses Schwein. Er mochte es wohl, mit blutverschmierten Maul über seiner halbtoten sterbenden "Beute" zu thronen. Der Gedanke daran war wohl sein Adrenalin, sein Antrieb.

Die Drohne machte einen Schritt zur Seite. "Ishtar, ich hoffe, Sie nehmen die Situation ernst. Das ist das Ende - oder vielmehr, der Anfang davon. Wenn wir hier fertig sind, in diesem Dreckloch, dann werden wir erst die Kolonien Terras vernichten, eine nach der anderen, und dann die Erde selbst. Wenn Sie jetzt nicht bei der Sache sind, dann werden sie das Spektakel verpassen. Alle Menschen - weg. Vom Antlitz des Universums verschwunden, von den Lar verschlungen wie eine Fliege."
Ishtar nickte einfach ab. Das hohle Geplapper des Captains voller Rassen- und Endsiegparolen war berühmt-berüchtigt unter eingeschworenen Kreisen im Larnet. "Was ist mein Job hier, Captain?", fragte er etwas genervt, und klopfte mit der Kralle an seinem Zeigefinger auf den Metalltisch.
"Wir haben nicht ewig Zeit.", erwiderte sein robotisches Gegenüber und zeigte auf das Hologram, genau auf einen kleinen roten Punkt, der inmitten des menschlichen Territoriums pulsierte. "Das Kommando hat Nachrichten abgefangen, wir können Sie aber nicht entschlüsseln. Wir vermuten, dass sie Abschusscodes für die Railgun und verschiedene Befehle übermitteln."
Ishtar klopfte erneut auf den Tisch. "Bestimmt wollen Sie, dass ich die Schlüssel besorge...?"
"Nicht nur das - wir glauben, dass in diesem Servergebäude wir Zugriff auf den Schlüsselgenerator bekommen und an den Erzeugungsalgorithmus gelangen, mit dem die Schlüssel erzugt werden. Wenn Sie und ihr Team dort hinein gelangen, könnten wir die Schachzüge der Menschen vorhersagen und dann..." Es folgte wieder diese rhetorische Stille, für die der Captain auch bekannt war, gefolgt von einem leisen Ablecken der Lippen. "Der erste Schritt, Ishtar, der erste Schritt."
"Ich soll da rein gehen und den Schlüsselgenerator klauen? Zu einfach, um wahr zu sein.", fügte Ishtar trocken hinzu.
"Sie und ihr Team gehen da rein. Der Rest sollte ein Kinderspiel sein, die Menschen benutzen eine Antenne in der Nähe, mit der sie auf das System zugreifen und Nachrichten erhalten. Sehr dumm von Ihnen. Sehr dumm."

Ishtar rollte mit den Augen. "Ihr Team." Er musste erneut mit den zwei kompetenen, aber nervigen Kerlen und der uneinschätzbaren schweigsamen Frau auf Streife gehen, um den Tag zu retten. Erst etwas mehr als einen Tag wieder offiziell im Dienst und schon war es leid, jemals seine Unterschrift auf den Ethertec-Vertrag gesetzt zu haben. "Ich mit den Drei da, schleich dort in den Serverhub rein, hack das System, besorg die Daten und komm wieder zurück. Kapiert." Er klatschte in die Hände. "Ich werd Sie nicht enttäuschen, Captain."
Die Drohne drehte ihren Kopf leicht zur Seite. "Ist ihr Job, Ishtar. Wenn sie mich enttäuschen, sind Sie tot und liegen verblutet irgendwo hier in der Gosse." Wieder dieses süffisante Lachen. "Bringen Sie die Daten schnell hierher zurück. Je schneller Sie sind, desto schneller können wir den vernichtenden Schlag gegen die Menschen führen. Je schneller Sie sind, desto weniger Zeit müssen Sie noch in diesem Dreckloch verbringen." Der Schuss eines Panzers ertönte in der Ferne. Es war kurz still. "Rasha hat alle Informationen, die sie noch brauchen. Ihr Team wartet am südlichen Ausgang auf Sie."
Ishtar trat einen Schritt zurück, weg vom OP-Tisch. "Schönen Tag noch, Captain.", sagte er und grinste, während er abnickte.
"Ihnen auch." Die Drohne richtete sich wieder voll auf und legte ihre Hände sanft auf den Tisch. Sie lauerte, und wartete, bis sie zuschlagen würde. Ein für alle mal. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Blut muss fließen.

ishtar.
Arthur muss auch irgendwann mal wieder ran

Obligatorische Warnung. Krankes Zeug und so.

Die Drei warteten auf ihn am südlichen Ausgang des Larmarktes.
Während Illaq sich entspannt an die Wand lehnte, eine rauchende Zigarette in der Hand haltend, hatte sich Ushtar auf einen alten, rostigen Müllcontainer gesetzt. Seine Ausrüstung hatte er, mitsamt dem schweren Rucksack, neben sich gestellt, genauso wie sein Sturmgewehr an den Container angelehnt war. In einiger Entfernung stand, im Halbdunkel des Schattens eines Wohnhauses, Rasha. Ihr Blick war die lange, breite Straße entlang gerichtet, weg vom Markt und hin zur Grenze zwischen Menschen- und Larsektor, die irgendwo in der Ferne lag, dort, wo der Rauch aufstieg, wo die Schüsse ertönten.
Dort, wo das Blut floss. Ishtar sah vor seinem inneren Auge die wahnsinnigen, zuckenden Bewegungen des Captains, die er vor Jahren in diesem Video gesehen hatte. Die Arme, die bis zum Ellenbogen von Blut bedeckt waren, dieser stierende, bohrend-animalische Blick, unterstrichen von dem Grinsen, welches jeden einzelnen Reißzahn im blutigen Maul des Captains entblößte... Wahnsinn. Was ist Wahnsinn? Ist es Wahnsinn, im Blut seiner Opfer zu baden? Ist es Wahnsinn, einer Illusion der Vergangenheit hinterherzuhetzen? Ist es Wahnsinn, sich aufzuopfern für etwas, das man selbst nicht wollte?

Ishtar spürte den Sand zwischen seinen Zehen, wie er mit jedem Schritt Abdrücke hinterließ.
Illaq sah auf und schnipste den Stummel seiner Zigarette weg. Sein Blick wurde erst etwas finster, er nickte jedoch dann leicht ab. "So sieht man sich wieder, Ishtar." Man konnte sehen, wie er mit den Zähnen knirschte. "Befehle erhalten?"
Er blieb stehen, etwas entfernt von den drei. Rasha sah immer noch in die Ferne. "Befehle erhalten. Wenn wir's durchziehen, ist der ganze Scheiß morgen vorbei."
Ushtar sah auf, schwieg jedoch. Sein Blick war kraftlos, als wäre jede Energie aus seinem Körper gewichen.
"Ich will keinen Bullshit wie vorhin nochmal haben. Wir gehen alle gemeinsam drauf, wenn irgendwer hier die Mission gefährdet. Ist das klar?", fragte Ishtar in einem befehlsartigen Ton. Er wusste, dass er unten die Hosen anhatte, dass er derjenige war, der für die Mission verantwortlich war. Die zwei Lar nickten ab, Illaq mit einem deutlich genervten Blick, Rasha hingegen drehte ihren Kopf leicht zur Seite. Er konnte einen Blick auf ihren Kopf erhaschen, ein versteinerter Gesichtsausdruck. Es war eine Mischung aus Wut, Hass, aber dazu kam noch eine Prise Trauer, die sich irgendwo hinter der Fassade versteckt hatte. Irgendwann nickte auch sie leicht ab, und drehte ihren Kopf wieder in Richtung Grenze.
Ishtar klatschte in die Hände - sehr unpassend zur Situation. "Super!", meinte er ironisch, und grinste. "Wenn ihr eure persönlichen Angelegenheiten bitte raushalten würdet, wir haben einen Job zu erledigen, und es geht darum, etwas zu stehlen. Und wenn wir also jetzt loslaufen, könnten wir morgen fertig sein!" Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung und trat durch das Südtor des Larmarktes auf die alte Hauptstraße, deren Asphalt zersprungen war und wo der rote Sand aus allen Ritzen des Bodens quoll. Er hörte, wie hinter ihm Ushtar seinen Rucksack aufsetzte und sein Gewehr nahm, um ihm zu folgen, genauso wie Illaq sich von der Wand loslöste und sich in Bewegung setzte. Schritte auf Sand und Stein, die ihm folgten.

Er sah nicht zurück. Wenn sie ihm nicht folgen wollten, sollten sie es nicht mehr. Er wusste, dass er es auch alleine durchziehen würde, dass vor allem Rasha ihm nicht gehorchen würde. Es ging um den Job, nichts Persönliches, hatte er gesagt. Herrje, er war ein Scheinheiliger, ein Heuchler. Das Persönliche war sein Beweggrund, warum er überhaupt noch hier war. Mit diesem Gedanken kramte er eine der Pillen hervor, und legte sie sich in den Mund auf seine Zunge. Wie war es im Beipackzettel gestanden - "gegen Abstoßung von Augmenten und Linderung psychosomatischer Effekte der daraus resultierenden Störungen im zentralen Nervensystem". Wenn er die Pillen nahm, kam er wieder runter, und die unterste Ebene seines Geistes, welche mit ihm sprach, verschwand immer wieder hinter einer brüchigen Mauer aus Ziegeln.
Das Bild des in Blut gehüllten Captains verschwand langsam, wie er auf einem Berg aus menschlichen Leichen stand. Ruckartige Bilder von Fleischwunden, bohrenden Klauen und herausquellenden Organen verblassten, wurden still, gleichermaßen wie die animalischen Laute, die durch seinen Geist hallten. Das Reißen und Zerren an Fleisch, das Brechen von Knochen, das Zischen, das Gurgeln, das Röcheln. Ein Wimmern. "Bitte... bitte..."
Ishtar spürte noch ihre Hand auf seinem Rücken, wie sie über seine Brust fuhr. Er lief, und lief, und ihr Mund näherte sich von hinten an seine Wangen. Ihr Atem war langsam, und ihr Mund leicht geöffnet, genauso wie damals, als sie ihn in ihr Zimmer gezogen hatte... "Blut muss fließen", flüsterte sie, und verschwand wieder in seinem Unterbewusstsein.
Er lief weiter über die Straße und blickte kurz zurück. Die Häuser waren heruntergekommen, der Dreck sammelte sich in den Gassen. Irgendwo, rund zwanzig Meter hinter ihm, folgten ihm Ushtar und Illaq, und noch ein ganzes Stück weiter hinten sah er Rasha, ein grüner Fleck inmitten des roten Sandes und des dreckigen Brauns der Häuser. Ihr Blick war zu Boden gesenkt. Was sie wohl fühlte?

Sie liefen so eine Weile die Hauptstraße entlang. Es war still, bis auf das Maschinengewehrfeuer in der Ferne, den leichten Wind, die immerwiederkehrenden Warnschüsse der Ethertec-Panzer am Kraterrand. Die Konzerne lauerten, während sich das normale Volk unten in der dreckigen Hölle gegenseitig zerfleischte. Irgendwann würden sie auch alles auffahren, solange, bis eine der beiden Seite Schrott und Hackfleisch sein würde. Übrig bleiben von der Siedlung im Krater würden wohl nur Trümmer, durchzogen von Müll und Asbest. Welche Seite gewinnen würde, war noch offen.

In der Ferne sah er etwas, was er nicht sehen wollte. So war es bei ihm schon immer gewesen, ob es Pech oder einfach Zufall war, wusste er nicht. Jedes Mal, wenn er sich eine der Pillen eingeworfen hatte und der Reigen von schrecklichen Bildern in seinem Kopf verstummt war, genau dann sah er etwas in der echten Welt, was er nicht mit Pillen, Alkohol oder Drogen totschlagen konnte. Im Erstkontaktkrieg waren es verstümmelte, halbtote Lar gewesen, mal das Video des Captains, ein anderes Mal einen Fluss aus Blut in einem Schützengraben... dann waren es die Bilder von ihr gewesen, wie sie starb, wie sie sich wand und in sich selbst verdrehte, wie er ihn bedrängte, und dann... Selbst die Pillen waren damals zu schwach gewesen, um diese Bilder in seinem Kopf später totzuschlagen. Als er in die Siedlung versetzt wurde und die Bar bekam, sah er meistens Bettler, Kriegsinvaliden oder ähnliches, wenn er eine Pille genommen hatte, die ihn an seine Vergangenheit erinnerten. Manchmal versank er in Selbstmitleid. Alkohol und Drogen plus Medikamente, der einzige Ausweg. Dreifache Pillenration.
In ein paar Metern Entfernung hatten die Lar-Rebellen auf der Hauptstraße Deserteure und Kollaborateure platziert, die sie wieder eingefangen hatten. Lar, die nicht eine Waffe in die Hand nehmen wollten, um auf Menschen zu schießen, oder die Menschen beschützt hatten - meistens die Kinder, diese kleinen, weinenden Dinger. Wenn solche Personen von den Rebellen gefangen worden waren, wurden sie vorgeführt, zur Schau gestellt, irgendwo, wo es jeder sah. Im Erstkontaktkrieg war es genauso gewesen, er hatte es mehrmals gesehen, ganze Mauern, an denen Lar angekettet worden waren. Ishtar betrachtete kurz im Vorbeigehen diejenigen, die dort angekettet worden waren. Sie waren splitterfasernackt, saßen im roten Sand. Irgendwelche Rebellen hatten ihre Taten mit einem roten Filzstift ihnen auf die Brust geschrieben, zwischen die Spuren von Peitschenhieben und Messern. "Schutz von Menschenkindern". "Verheiratet und Geschlechtsverkehr mit Menschenschwein". "Verweigerte Dienst an der Waffe". "Feigling". Ihre Augen waren blutunterlaufen, ihre Gliedmaßen schlaff, die Ketten scheurten ihre Schuppen an den Hand- und Fußgelenken auf. Bei den Frauen konnte er Spuren von Vergewaltigung ausmachen, die zerkratze Brustpartie, Blutspritzer am Unterkörper, spröde Lippen und abgebrochene Zähne.
"Im Krieg werden Leute zu Monstern", hatte sie ihm immer wieder gesagt, damals. Als er vorbeilief, sahen sie auf, aus ihren tiefen Augenhöhlen. Traurige Blicke, Kummer... Wut. Gebrochene Personen, sowohl im Geiste als auch im Körper. Ishtar wandte sich ab, lief weiter, und doch verspürte er ein Gefühl von Abscheu. Vor sich selbst, vor den anderen, vor der ganzen Situation.

Für was stand er? Er tötete Menschen, heute und gestern schon zwei ingesamt. Warum? Er hatte einen Vertrag unterschrieben, und er tat es für sie, damit er sie bei sich fühlte. Wie ein Geist aus der Vergangenheit, der wieder zum Leben kam. Blut muss fließen. Wenn er es sich so durch den Kopf gingen ließ, war es Wahnsinn. Ja, er war wahnsinnig, genauso wie der Captain, der nichts mehr liebte, als lebende Menschen zu zerfleischen und es zu genießen, wie sie selbst dabei zusehen mussten, wie er sich in ihr eigenes Blut hüllte. Er war genauso wahnsinnig wie er, verfolgt von seiner eigenen Vergangenheit und durch Maschinen in seinem Körper und seine Unterschrift an sein Schicksal gebunden. Und dabei zusehen, wie er sein Werk vollbrachte, mussten Leute wie die, die gerade nackt am Straßenrand saßen, gezeichnet durch den Hass ihrer eigenen Rasse. Wahnsinn! Wahnsinn! Ishtar musste grinsen. All die Erinnerungen. So wenig gute, und so viele schlechte. Er war geformt worden vom Bösen, vom Hass der Lar. Er spürte erneut diese innere Unruhe, die in ihm aufkochte, er sah das Gesicht von ihm in seinem inneren Auge, wie er ihn in die Ecke gedrängt hatte, nachdem sie gestorben war... er dachte wieder an das Video des Captains.

Ishtar warf sich gleich zwei weitere Pillen in seinen Mund. Dreifache Portion. Weiterlaufen.

ishtar.

Achtung, sollte jetzt langsam klar sein das mein Zeugs nicht gerade... dezent ist.

Er drückte ihm die Waffe genau zwischen die Augen. Eine Pistole, wo auch immer er sie her hatte. Es war dunkel, nur das kleine Licht neben dem Gestell aus Edelstahl erleuchtete halbwegs die Szene, fahles Licht erhellte seine von Wut entstellte Fratze. Ishtar spürte den Druck zwischen seinen Augen, wie der stumpfe Lauf gegen seinen Schädel unter der Haut drückte. Er konnte sich nicht bewegen, allerhöchstens mit seinem Körper etwas hin und her rutschen, seine Hände waren oben an die Stange am Ende des Tisches gefesselt. Es gab kein Entkommen.

?Was hab ich dir gesagt, du mieses Drecksstück?? Der Druck der Pistole wurde etwas stärker. Ishtar spürte, wie sich sein Peiniger auf seine Brust setzte, die Beine auseinander machte. Er senkte sich nach unten, leicht seitlich erhellt durch das fahle Licht. Wut.
Ishtar wimmerte, er spürte schon jetzt, wie ihm die Tränen aus den Augenwinkeln quollen. ?Bitte? bitte?? Er bettelte wie der sterbende, halb zerfleischte Mensch in diesem Video.
?WAS HAB ICH DIR GESAGT?!?, fauchte ihn sein Peiniger an. Er senkte sich weiter nach unten, die Pistole blieb zwischen Ishtars Augen. Seine Reißzähne waren entblößt, die Mundwinkel nach oben gezogen wie bei einem Tier. Die Pillen? die Pillen.
?Lass die Finger von Rasha??, winselte Ishtar, und versuchte sich anzuwenden. Ein Schlag traf ihn genau an die rechte Seite seiner Wange. Sterne im Blickfeld. Der Druck auf seiner Brust wurde größer, als würde der andere sein gesamtes Gewicht auf ihn legen. Er fühlte es.
?Du bist schuld.?, flüsterte er. Der Druck hinter der Pistole wurde geringer. ?Du bist schuld.? Er spuckte es förmlich aus. ?Du bist schuld, Ishtar.?
?Okay, okay? Ich bin schuld, ich bin schuld??
?Sie ist tot, verdammt!? Ein weiterer Schlag ins Gesicht. Die Pistole bohrte sich nun in seinen Schädel, als gäbe es dort keine Haut und keine Schuppen mehr. ?Weil du sie im Stich gelassen hast, du mieses Stück Scheiße!?
Sie trat hinter ihm hervor. Ishtar wusste, dass sie eigentlich tot war. Heute war sie hier gestorben, auf einem der Tische hier. Ihr schuppiger Körper war grazil, lang und gewunden, er erinnerte sich - oft genug hatte er ihn gesehen. Schlangenartig. Sie schritt langsam zu einem der Beistelltische, ihr Blick wandte sich zu ihm, wie er dort auf dem Tisch lag, gefesselt und mit einem wütenden Lar auf seiner Brust, der ihm eine Pistole zwischen die Augen presste? die Pillen, die Pillen. Sie war nicht echt.
?Serath, bitte??
Noch ein Schlag. ?Du hast kein Recht zu reden! Ich könnte dich umbringen, wenn ich wollte, doch glaubst du, das wäre es wert, Ishtar?? Er fing an, hysterisch zu kichern. ?Das wäre noch zu schön für dich. Ich will dich leiden sehen, leiden!?
Rasha nahm eines der Skalpelle vom Beistelltisch. Wieder wandte sich ihr Blick zu Ishtar auf dem Tisch. Ihre Lippen waren wieder leicht geöffnet, wie an dem Abend, als sie ihn zu sich ins Zimmer gerissen hatte? er spürte die Tränen, die aus seinen brennenden Augen quollen.
Serath senkte sich herab. Ishtar konnte seinen Atem fühlen, das Zittern der Pistole zwischen seinen Augen. ?Ich will dich für heute Nacht leiden sehen, Ishtar, bis du bis an das Ende deines mickrigen Lebens davon verfolgt wirst. Der Tod wär viel zu schön für dich. Endlich Ruhe. Du bist rastlos, Ishtar, und du wirst keinen Frieden finden, selbst nicht, wenn du wie ich deine scheiß Ethertec-Pillen nimmst, um die ganze Kacke in deinem Leben zu verdrängen. Dafür?? Serath senkte den Druck der Pistole. ?? sorge ich heute Nacht. Du. Bist. Schuld!?

Rasha rammte sich das Skalpell in die Bauchgrube, und ihre Augen drehten sich in ihrem Schädel nach oben, als sie daran herumriss.
Bevor Ishtar noch den Mund zum Schreien öffnen konnte, war er dazu nicht mehr in der Lage. Er spürte irgendwann nur noch den Schmerz. Sein Körper gehörte ihm nicht mehr. Keine Pillen, keine Pillen.

Was ist Wahnsinn?



?Ishtar??
Er hatte sich wieder in Gedanken verloren, die irgendwoher gekommen waren. Illaq hatte ihn unsanft an die Schulter geschlagen, um ihn aus seiner gedanklichen Versenkung herauszuholen. Bevor dieser ihn fragen konnte, ob alles in Ordnung sei, winkte Ishtar schon ab. Alles war in Ordnung - so zur Hälfte.
Er erinnerte sich zu genau an die Nacht. Die Schrecklichste seines Lebens, gefesselt auf einem OP-Tisch und ausgeliefert an jemanden, der mindestens genauso wahnsinnig war wie er? jemand, dessen Gehirn noch mehr durch die Pillen und die Eingriffe Ethertecs zerschossen wurde, als es sein eigenes schon war. Er fühlte es manchmal immer noch, wie jemand eine Pistole zwischen seine Augen drückte - und den ganzen Rest, den Serath ihm angetan hatte. Dazu waren noch Ishtars eigene Halluzinationen gekommen? vielleicht hatte sie ihn auch noch zusätzlich gequält, dafür, dass er sie im Stich gelassen hatte. Sie hatte irgendwann auf seiner Brust gesessen, wie sein Peiniger mit der Pistole. Mit dem Skalpell in ihrer offenen Bauchdecke.

Du bist schuld, flüsterte es in seinem Hinterkopf. Heute konnte er keine Pillen mehr nehmen.

Er rutschte etwas auf dem staubigen Boden hin und her. Ishtar und seine nunmehr schweigsame Truppe waren den ganzen Tag gelaufen, auch, als die Sonne im Zenit gestanden hatte und sich die zerschossenen Gassen in gigantische, vor Staub und Abfall strotzende Öfen verwandelt hatten. Nun war es Abend, die Sonne würde bald den Horizont berühren. Sollte alles glatt laufen, würden sie mit dem Sonnenuntergang in die Dunkelheit entkommen - bestenfalls mit Schlüsselgenerator aus dem Server-Hub, der vor ihnen lag. Sie lagen auf einem Balkon in der Nähe, von dem aus man Blick auf einen Hintereingang hatte. Eine enge Gasse, in der die Müllcontainer standen. Wenn Ishtar genau hinsah, konnte er verwesende Leichtenteile zwischen all den Plastiktüten und Kartons entdecken, die aus den metallenen Behältern herausquollen. Sie waren inmitten des Menschengebietes. Wenig Aufsehen erregen und wieder verschwinden.

Tosh hatte sich länger nicht gemeldet. Offensichtlich war er in seinem Stealth-Carrier irgendwo über der Siedlung in einer Art Standby-Modus und würde nur aktiv werden, sobald es Probleme geben würde. Gleiches galt für die Armeen der Konzerne, auch sie ruhten immer noch an den Kanten des Kraters und in den Becken jenseits der Siedlung. Vielmehr - sie lauerten. Sie warteten auf einen Grund, zu schießen. Ihre Maskottchen, ihre Marionetten tanzten schon unten in der Stadt umher, einfache Leute und ehemalige Soldaten mit Waffen, die sich gegenseitig abknallten, sobald sie in Sichtweite sein würden.

?Rasha??, flüsterte Ishtar.
Sie drehte ihren Kopf leicht zur Seite. Ihr Blick war wieder dieser neutrale, starre von vorher. Sie hatte sich wieder hinter ihrer Fassade verkrochen. Hoffentlich würde dies erstmal so bleiben.
?Keinen Scheiß.?
Ein leichtes Nicken. Sie zog aus einer ihrer Seitentaschen ein kleines, längliches Gerät hervor. Zwischen all den Bolzenmagazinen und Medikits an ihrem engen Anzug fand sie die Tasche schneller, als man es erwarten würde. Sie wackelte kurz mit dem Ding in ihrer Hand.
?Was?n das für ein Teil??, fragte Ishtar verwundert. Er hatte sowas noch nie gesehen.
?Die Menschen nennen es USB? frag nicht, was das heißt. Der Captain hat es mir gegeben.?
?Sieht? alt aus.? Es war komplett aus Plastik und teilweise ziemlich verkratzt.
?Der Hub ist offensichtlich aus alten Bauteilen gebaut worden.? Sie steckte das Ding wieder in eine ihrer Taschen. ?Wir müssen nur einen Anschluss finden und das Teil reinstecken.?
Illaq räusperte sich. ?Das klingt zu einfach, um wahr zu sein.? Er holte sein Fernglas hervor und musterte den Hub, einen mittelgroßen, fensterlosen Betonbunker.
Rasha erwiderte keine Antwort, sondern zuckte nur mit den Schultern.
?Wir gehen gemeinsam rein. Wir gehen gemeinsam durch und finden so einen? USB-Anschluss. Wenn man das Teil da grade reinstecken muss und sich das den Schlüsselgenerator von selbst aus der Datenbank zieht, kann das nicht so schwer werden. Wir dürfen nur nicht groß Aufsehen erregen, verstanden??, fragte Ishtar schließlich nach einem kurzen Schweigen.
Die drei anderen nickten ab.
?Wir gehen jetzt wieder hinten die Treppe runter und durch den Hintereingang rein. Sollten die Pläne stimmen, kommen wir an einem Wartungsgang hinter der Serverfarm raus. Da drin wird?s eng sein, Konfrontationen vermeiden. Außerdem soll keiner bemerken, dass wir hier waren. Wir gehen durch den Wartungsgang in einen der Kontrollräume, vielleicht finden wir dort einen Zugang. Folgt mir.?
Erneut nickten die drei ab.
?Keine Scheiße machen. Los geht?s. Wir haben einen Auftrag.?

Sie richteten sich alle auf, blieben jedoch in der Hocke und klopften sich den Staub von ihrer Bauchseite. Jeder zog seine Waffen hervor. Mit einem leisen Klicken spannte Rasha eines ihrer Bolzenmagazine in ihre Armbrust.
?Im Anschlag lassen, nicht wegstecken? ich wiederhole, nicht wegstecken.?, flüsterte Ishtar. ?Keiner weiß, dass wir hier sind.?
Leise liefen sie die Treppe hinter dem Balkon hinunter. Einige der Stufen waren beschädigt, die Kanten abgesplittert. Mit vorsichtigen Schritten konnte man jedoch runterkommen. Vier Stockwerke abwärts. Unten kamen sie in einem verwüsteten Laden heraus, in dem wohl früher Elektronikbauteile verkauft worden waren. Einzeln auf dem Boden verteilt lagen alte, ausgemusterte Platinen und Chipsätze, genauso wie ein alter, eingestaubter Computer auf dem Tresen in der Ecke stand. Ishtar konnte die Schrift der Menschen nicht lesen, dieses Mischmasch aus verschiedenen Sprachen, die dort überall zu finden waren. An einer Wand stand groß geschrieben ?????????????! ?, ein wildes Gekrakel aus Linien und Bögen ohne Sinn und Verstand. Es kam jedoch der geschriebenen Lar-Sprache im entferntesten Sinne noch am nächsten.

Sie traten auf die Straße. Es wurde schon langsam etwas dunkler, die Schatten länger. Der Sand zwischen ihren Zehen war noch warm durch das einfallende Sonnenlicht des Tages. Vor ihnen lag eine verwinkelte Gasse, am Ende die Hintertür zum Hub, der sich als grauroter Klotz hinter den Wohnhäusern hervorschälte. Ishtar winkte die drei zu sich und lief in schnellen Schritten nach vorne durch die Gasse. Er gab das Zeichen. Waffen in Anschlag. Er hörte das leise Klicken, als Rasha ihre Armbrust entsicherte. Sie stand knapp hinter ihm, er konnte ihren Atem sogar hören. Er selbst holte aus der Befestigung an seinem Rücken die Maschinenpistole heraus und steckte eines der Magazine aus seiner Brusttasche hinein. Ishtar zeigte nach vorne. Vorwärts.
Sie liefen weiter, mit schnellen, kurzen Schritten. Jederzeit könnte jemand um die Ecke kommen und alles kaputt machen. Jeder Schuss wäre einer zu viel, und jeder Tote erregte selbst im Nachhinein Aufmerksamkeit, wenn er irgendwo fehlte und seine Leiche in einer Gasse oder Ecke gefunden werden würde. Immer weiter. Die Tür war nur noch fünfzig Meter entfernt.
Ishtar rückte seine Waffe in Position. Schon lange hatte er nicht mehr richtig geschossen. Das Gefühl der Vibrationen, das rhythmische Pulsieren und Rattern der Mechanik in der Waffe? er konnte noch fühlen, wie am Schießstand die heißen, leeren Patronenhülsen auf seine in schmutzige Mullbinden gewickelten Füße gefallen waren.
Die Tür war alarmgesichert durch ein Bedienfeld unter der Türklinke. Ushtar kramte aus seinem Rucksack ein klobiges Gerät hervor und öffnete vorsichtig eine kleine Buchse auf der Unterseite des Eingabefelds, und pfriemelte dann zwei Drähte hinein, rot und grün. Es dauerte nur ein paar Sekunden. ?Zugriff.?, flüsterte er. ?Kann losgehen.?
?Illaq, du bist auf der anderen Seite mit Ushtar. Rasha, hinter mich.? Sie brachten sich in Position. Ishtar legte vorsichtig seine Hand auf die Türklinke. ?3?2?1??

Er öffnete die Tür, und stickige, heiße Luft wehte ihnen aus dem Serverhub entgegen.
Ihre geisterhaften Finger legten sich in seinen Nacken, als er mit den drei gemeinsam eintrat und leise wieder die Tür schloss.

?Du bist schuld.?, flüsterte es im leichten Wind, der durch die Siedlung zog.



arthur.

Sie hatten sie zuerst in einen der Carrier eingeladen, nachdem sie gewartet hatten.
Stundenlang hatten sie im Container gewartet, ständig beobachtet von zwei Drohnen, die sich vor den Türen breitgemacht hatten. Massive Maschinen, die beim geringsten Widerstand sie entweder auseinanderreißen oder erschießen würden.
Mehrmals hatte Arthur Schüsse gehört. Von draußen, irgendwo hinter den Containern. Sie hatten geschwiegen, die ganze Zeit, während Megan in den Staub am Boden kleine Kreise mit ihrem Finger gezeichnet hatte. Irgendwann waren nacheinander die Föderationssoldaten reingekommen, aber die zwei Menschen, die er noch gestern durch die Ansammlung der Container wuseln gesehen hatte, fehlten. Ein mulmiges Gefühl, schwer greifbar.

Als sie schweigend mit den anderen Soldaten aus dem Container geführt wurden, hin zu dem schnittigen Ethertec-Carrier, erhaschte er einen kurzen Blick hinter den entferntesten Container aus der Ferne. Der rote Sand der Wüste war dort fast schwarz gefärbt, begleitet von einer Spur metallischen Brauns. Er konnte sich bildlich ausmalen, was dort geschehen war, und wie die Wand des Containers nun aussah.
Der Carrier war innen eng, normalerweise hingen die Drohnen an der Unterseite in achterbahnartigen Befestigungen, und im Laderaum tummelten sich die Anak, diese Insektenviecher. Die Drohnen trieben sie in dort hinein, nachdem sich langsam die Ladeluke geöffnet hatte, einen nach dem anderen. Es war eng, stickig - und es stank bestialisch, ein süßlich-beißender Geruch erfüllte den Innenraum, und der Boden war mit einer klebrigen und viskosen Masse überzogen. Arthur spürte es, wie Megan an ihn gepresst wurde, als die Föderationssoldaten hinter ihnen hineingedrängt wurden. Er musste sich fast übergeben, doch jetzt war kein guter Zeitpunkt dafür.

Der Flug dauerte nicht lange. Sie mussten nur runter in den Krater, zu diesem Larmarkt, wo sich heute Morgen ein Teil der Bodentruppen gesammelt hatte. Als sich die Luke wieder öffnete, quollen die Soldaten aus ihr heraus wie bei einem Wasserventil an einem Überdrucksilo. Es war ein Gerumpel, das dort vorne stattfand. Arthur erhaschte einen Blick auf die Drohnen, die die Seite flankierten. Kein Entkommen. Wer dort versuchte, wegzurennen, würde von allen Seiten von Kugeln durchbohrt werden, bis nur noch Hackfleisch übrig bleiben sollte.
Er sprang aus dem Carrier, und wurde unsanft von einer der Drohnen an der Rückseite seins Kragens gepackt. Megan wurde die Kamera aus der Hand gerissen, und eine der Drohnen legte ihr die Hände auf den Rücken. Polizeigriff. Arthur war in seiner relativ kurzen, aber erfolgreichen Journalistenlaufbahn an der Kriegsfront niemals in so ein Schlamassel geraten. Meistens war er heil davongekommen oder hatte sich in sicherer Entfernung befunden, doch heute?

Wenig später fanden sie sich in einem entrümpelten Gefängnis wieder. Die Drohnen hatten ihnen Säcke über den Kopf gezogen, und sie waren gelaufen. Sie hatten sie in eine Richtung gedrückt, irgendwohin über den Larmarkt. Sie hatten wieder Schüsse gehört, Schreie dazu noch. Alles in ihrem Rücken. Der mechanisch-harte Griff der Roboter machte es nicht besser, wie sie hinter ihnen liefen, jeder Schritt begleitet vom elektronischen Surren der Servomotoren. Als sie die Säcke vom Kopf gezogen bekamen, sahen sie Lar aus Fleisch und Blut, die ehemals in dieser Siedlung gelebt hatten. Nun trugen sie Waffen und Kriegsausrüstung an ihrem Körper. Sie musterten sie, die zwei Menschen, die dort in ihr Gefängnis geführt worden.
Eine der Drohnen sagte irgendwas, zischende Laute ertönten aus ihrer elektrischen Lautsprecherkehle. Einer der Lar grinste breit, dazu gerade noch der, der offensichtlich sich mit dem frischen Blut eines Menschen traditionelle Kriegsbemalung in sein Echsengesicht gemalt hatte. Er erwiderte erneut irgendwas, es klang fast schon spöttisch. Wahrscheinlich so etwas wie ?Wir werden gut auf sie aufpassen?. Dann drückten die Drohnen sie von sich weg, und Arthur und Megan fielen unsanft in die schuppigen Hände der Rebellen. Zu zweit führten sie sie eine Treppe hinunter in den Keller, genau hinter dem ehemaligen Servicetresens des Gefängnisses. Schwere Metalltüren versiegelten unten die Zellen, alle durchnummeriert. Die meisten waren verschlossen, hinter einigen konnte man ein Wimmern ausmachen. ?Bitte? bitte?? Eine der Türen war geöffnet, und Arthur blickte hinein, als sie vorbeigeführt wurden.
Ein Mann saß an der Wand, genau auf einer verschmutzten Matratze. Schummriges Tageslicht fiel von oben durch einen kleinen Schlitz und gab der ganzen Szenerie einen düsteren Anblick. Zwei Lar knieten vor dem Menschen, einer hielt eine schwere Pistole in seiner Hand, der andere offensichtlich ein Fleischermesser. Erst dann bemerkte Arthur die dunkle Pfütze aus Blut auf dem Boden, die sich unter dem Mann ausbreitete, die Spuren an der Wand, wie er hinuntergerutscht war. Das zerfetzte Loch in seiner Stirn. Verdammte Scheiße, dachte er, die werden uns umbringen. Als er schon längst vorüber war, hörte er ein widerliches Geräusch. Er musste sich erneut fast übergeben, als er erkannte, was dort gerade geschah.

Am Ende des Ganges öffneten die Lar eine der Türen. Die Zelle war klein, genauso schummrig wie die davor, in der der tote Mensch gelegen war. Zwei Matratzen, staubig und dreckig, hinten ein Abfluss im Boden. Mehr nicht. Die Rebellen stießen Arthur und Megan hinein, begleitet von hysterischem Gelächter. Als sich der Schlüssel im Schloss umdrehte, war ihr Schicksal besiegelt.

?Fuck.?, meinte Megan. Blanke Panik. ?Fuck, fuck!? Sie lief in kleinen Kreisen in der Mitte der Zelle. ?FUCK!?, schrie sie, und riss die Arme gen Himmel. Mehr als eine staubige Betondecke bekam sie nicht zu sehen, als sie nach oben starrte. Arthur setzte sich auf die staubige Matratze. Seine Arme und Beine taten weh, von der ganzen unsanften Herangehensweise der Lar mit ihren Gefangenen. Er schwieg, während Megan fluchend in der Mitte der Zelle stand, und starrte zu Boden. Sie waren Gefangene, obwohl sie keinerlei Kriegspartei angehörten. Als verdammte Presse. Neutralität!
Irgendwann schwieg Megan genauso wie er und setzte sich auf ihre Matratze. Es war still. Die Wände und die Stahltür schluckten jeden Ton, von außen und von innen. Sie schwiegen weiter, für eine ganze Zeit.

Sie würden sterben, irgendwann.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und die Tür öffnete sich mit einem unheilvollen Quietschen.

ishtar.

Der Serverhub war eng und stickig, dazu kam noch ein unheilvolles Halbdunkel, welches von schwachen Halogenlampen an der Decke stellenweise durchbrochen wurde. Die Gänge zwischen den Serverblocks waren mehr oder weniger parallel, von der niedrigen Decke senkten sich verdrehte Kabel und Schläuche hinab in die vernetzten Apparate, die blinkend in ihren Schränken lagen. Alles war von einer dicken Schicht des omnipräsenten roten Staubs bedeckt, doch die alte Technik der Menschen schien irgendwie noch zu funktionieren, trotz dem ganzen Kabelsalat, der sich in den Schränken angesammelt hatte.

Ishtar spürte, wie seine Füße das kalte Metallgitter auf dem Boden berührten, darunter verliefen hunderte Kabel in allen Farben, die sich ineinander verdrehten und in zahllose Router mündeten. Ein Wirrwarr, welches den Menschensektor einen Zugang in die Weiten des galaxisüberspannenden Holonets gewährte.
Der Kontrollraum war leicht erhöht über den Serverarrays, zwei Treppen aus Metallgittern führte nach oben in einen Raum hinter verkratzten Glasscheiben. Obwohl die Decke so niedrig war, hatte man von dort oben sicherlich einen Überblick über die schmalen Gänge zwischen den Servern. Als Ishtar leise die Tür öffnete, sah er sofort den alten Computer, der auf einem der Kontrollpulte zwischen blinkenden Kontrollleuchten stand. Er zeigte auf ihn, und Rasha zog den USB-Stick aus ihrer Tasche hervor. Glücklicherweise war der Rechner im Stand-by-Modus, und mit einem einfachen Tastendruck auf der mechanischen Tastatur (wie altmodisch) schaltete sich der Bildschirm an.
?Positionen halten. Wo auch immer die Menschen sind, sie sind hier drin.?, flüsterte Ishtar. Rasha bückte sich etwas nach unten, sodass ihr Kopf hinter dem Bildschirm verschwand. Mit ihrem Daumen drückte sie die Verschlusskappe vom Stick und steckte ihn in einen der Frontanschlüsse des Computers. Die Rückseite begann rot zu blinken.
?Übertragung läuft. Das Teil sucht sich die Datenbank aus dem Vengeance-Archiv über die Antenne und speichert sie.?, flüsterte sie. Ushtar und Illaq lugten über die Tischkante, ihre Waffen im Anschlag. Geladen und entsichert.
?Wie lange dauert der Scheiß? Wir können nicht ewig hier bleiben.?, fügte Illaq leise hinzu.
?Nicht mal zwei Minuten. Passt einfach auf, das uns keiner sieht.?
Ishtar umklammerte seine Maschinenpistole. Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Sie hatten weder einen Menschen noch irgendein Lebenszeichen im Hub gesehen? als wüsste jemand, das sie hier sein, und?
?Scheiße.?, flüsterte er entsetzt.
Illaq drehte sich um, und starrte ihn etwas verdutzt an. ?Hm?? Der Stick blinkte weiter. Rot.
?Das ist eine verfickte Falle.?

Bevor irgendwer auf Ishtars Erkenntnis antworten konnte, zerplatzte vor ihnen die Scheibe in tausend kleine Splitter. Ein Schuss.
?KOPF RUNTER!? Er warf sich auf den Boden, als eine Salve Gewehrkugeln genau hinter ihn in die Wand zwischen Diagnosegeräten und Kontrollpulten eintraf.
Rasha schielte nach oben. ?60 Sekunden.? Sie zog ihre Armbrust wieder hervor, und lud zur Sicherheit nochmal durch. ?Scheiße, scheiße, scheiße!?, fluchte Illaq, der seine Pistole hervorholte und damit blind über die Tischkante mehrmals in den Serverraum hinein schoss. ?Sie haben uns gesehen!?
Ishtar zeigte auf die Türen auf beiden Seiten, hinter denen die Metalltreppen lagen. ?Ushtar, nimm dir dein Sturmgewehr und heiz ihnen ordentlich ein, ok?? Dieser nickte ab, und robbte über den Boden in Richtung linker Tür. Eine weitere Salve traf die Rückwand des Kontrollraumes. Kabelfetzen und Metallsplitter fielen auf den Boden, als das elektrische Equipment von den Kugeln getroffen wurde. Staub wurde aufgewirbelt.
?Rasha und Illaq, bleibt hier. Passt auf das scheiß USB-Ding auf, und verpisst euch, wenn es fertig ist.? Nochmal Gewehrfeuer. Ushtar kniete hinter einem Kontrollpult und schoss nun durch das zerschossene Fenster. Ra-ta-ta-ta-ta. Die leeren Patronenhülsen fielen mit einem leisen Klirren auf den staubigen Boden. Ishtar lud seine SMG durch und knackte mit den Fingern. ?Ich übernehm? den Rest.? Dann huschte er zum rechten Ausgang des Kontrollraums. Illaq sagte irgendwas, was in einer weiteren Salve der Menschen unterging. Der USB-Stick blinkte immer noch. ?30 Sekunden.?, rief Rasha.

Ishtar lugte über die zerschossene Fensterkante. Der Hub war immer noch in das gleiche Halbdunkel getaucht, doch er konnte in einem der Gänge eine schlanke Silhouette ausmachen. Irgendeiner der Menschen brüllte etwas. Dann sah er einen weiteren Schemen, groß und hünenhaft (fast schon so groß wie ein Lar, er war überrascht), der sich an der linken Seite des Hubs löste und Richtung Treppe sprintete. Zuerst schoss Isthar auf ihn - das Schnellfeuer der Maschinenpistole ließ seinen Körper vibrieren, durch die Arme in seinen ganzen Torso, der mit jedem einzelnen kleinen Schuss mitschwang. Der Hüne verschwand hinter einem der Serverarrays und schoss im Gegenzug auf Ishtar, genauso wie eine anderer Schemen, der sich aus dem Halbschatten eines Ganges löste. Ishtar spürte den Staub auf seiner Zunge, der nun in der Luft lag, und spuckte auf den Boden. Er sah hinüber zu Rasha, die mit ihrer Pistole prophylaktisch ziellos in die Gänge schoss. Armbrustbolzen zu verwenden wäre zu verschwenderisch. ?20 Sekunden!?, rief sie. Ushtar war in eine Art Dauerfeuermodus versunken, neben ihm lag schon ein leeres, dampfendes Magazin. Das Dröhnen und Rattern des Gewehrfeuers betäubte die Ohren.

Plötzlich hörte Ishtar stampfende Schritte auf der Metalltreppe. Der Hüne rannte wohl die Treppe hoch und wollte in ihre Seite fallen, sodass er einfach nur Ishtar, Rasha und Illaq mit einer kurzen schweifenden aus den Schultern Bewegung umschießen wollte. Nicht mit mir, dachte sich Ishtar, und sprang auf das obere Ende der Metalltreppe aus der Tür heraus, den Blick starr nach unten die Treppe herunter gerichtet. Wie überrascht musste wohl der Mensch sein, wenn plötzlich vor ihm ein Lar mit Exoskelett und fast schon wildem Blick, gebückt und bis an die Zähne (wortwörtlich) bewaffnet war, der urplötzlich aus der Tür sprang?
Genau das passierte. Ishtar konnte es im Blick des Menschen sehen, das er damit nicht gerechnet hatte, genauso, wie sich sein Griff mit seinen überdimensionalen Händen an seiner schweren Waffe lockerte. Bevor er schießen konnte, hatte Ishtar es schon getan, genau in die Brust, bis auf die Kugel genau ein halbes Magazin aus der Schnellfeuerwaffe. Und bevor er irgendwie noch einen allerletzten Schuss abgeben konnte, sozusagen als letzte Maßnahme, bevor er angeschossen umfallen würde, sprang Ishtar mit aller Kraft auf ihn. Er streckte seine klauenbesetzten Füße und Hände vor sich, spannte seine Daumenkrallen. Sein Exoskelett katapultierte ihn in den Zwei-Meter-Hünen, der rücklings auf von der Metalltreppe auf den staubigen Boden fiel, und Ishtar bohrte jede seiner Krallen an seinen Extremitäten in den Körper des Menschen, die seiner Füße in den Bauch, die seiner Hände in den Hals. Der Mensch schrie, wahrscheinlich aus Panik, obwohl er sicherlich wusste, dass sein Schicksal besiegelt war, als sich die Klauen in seine Gurgel und Unterkörper bohrten. Ishtar senkte leicht seinen Kopf, und grinste ihn breit an. Er sah in die panischen Augen, die eine Reihe messerscharfer Reißzähne in seinem Mund zu sehen bekamen, und drückte etwas fester mit seinen Händen zu. Der Mensch gurgelte weiter, und das Blut befleckte Ishtars schuppigen Hände und Füße. Es war warm und dickflüssig, wie es da aus den Wunden an seiner halb zerfleischten Kehle heraussprudelte.
Bevor Ishtar sich weiter austoben konnte, ging ein Hagel an Kugeln auf ihn nieder, und er rollte vom halbtoten Menschen hinter eine Serverreihe, bevor er getroffen werden konnte. ?10 Sekunden!?, rief Rasha. Ushtar feuerte weiter wie ein Wilder, während die Feuerstöße der Menschen nicht aufhören wollten. Einer war wenigstens erledigt.

Ishtar schielte kurz in den Gang neben sich. Am Ende des Ganges sah er den Fuß eines Menschen, der auf den Gang ragte. Zeit für ein Überraschungsmanöver! Er hüpfte leicht hoch und bekam mit seinen Händen die Kante der Serverreihe zu fassen, mitsamt ein paar Kabeln, an denen er sich ruckartig auf die Oberseite der Reihe zog. Es war eng, und die Decke niedrig, aber irgendwie krabbelte er durch, während der Mensch unbehelligt am Ende des Ganges de Kontrollraum fixierte und ins Leere schoss.
?Fertig!? Rasha riss den Stick aus dem Computer und drückte den Menschen eine weitere Portion Blei von oben mit ihrer Pistole hinein, verfehlte jedoch und traf nur Server und staubigen Boden. Sie setzte sich in Bewegung. Wenn sie jetzt lebend hier rauskamen, war schon die Hälfte des Auftrags geschafft - doch eigentlich hätten sie unbemerkt bleiben sollen. Zurückkommen wird schwer werden, das war jetzt klar.

Ishtar drückte sich durch ein Kabelpaket ans Ende des Arrays, und er lugte über die Kante nach unten. Da war der Mensch - klein und verletzlich. Er schrie etwas, wahrscheinlich irgendwas wie ?Wo ist denn der eine, der gerade unseren Freund gekillt hat??
Über dir, dachte Ishtar, und ließ sich von der Kante des Servers auf ihn fallen. Als er auf seinen Schultern landete, konnte er einen kurzen Blick auf den verdutzten Gesichtsausdruck des Menschen erhaschen, bevor er seine Klauen in seine Schultern bohrte und die Klingen an seinen Unterarmen ruckartig herausfuhr. Direkter Durchschlag, von oben zwischen Schulterpolstern und Schutzkleidung senkrecht durch den Nacken nach unten. Eine der Klingen trat wieder vorne aus der Brust hervor, während die andere sich in der Lunge des Menschen versenkte. Dann drückte ihn das schiere Gewicht des Lar auf seinen Schultern zu Boden in den Staub.
Ishtar hörte eine menschliche Frau irgendetwas schreien, etwas weiter entfernt, Ushtar schoss immer noch wie ein Verrückter. Er stand wieder auf und packte sich den liegende Menschen am Kragen. Dieser lebte noch, obwohl er gerade von zwei ellenlangen, panzerbrechenden Klingen von oben aufgespießt wurde. Er zappelte mit den Füßen, als Ishtar ihn mit Leichtigkeit hochhob, er hing wie ein nasser Sack zwischen seinen Klauen. Um sicherzugehen, dass der Kerl endgültig Ruhe geben würde, schlug ihn Ishtar einmal kräftig frontal in den Server, genau in das Wirrwarr aus Kabeln und blinkenden Lichtern. Dann ließ er los, und der erschlaffte Leichnam rutschte langsam zu Boden. Noch einer weniger.

Eine weibliche Silhouette löste sich aus dem Halbdunkel der Server. Ishtar sah Mündungsfeuer und sprang in Deckung, als knapp neben ihm die Kugeln die Kabel zerfetzten. Rennen, rennen. Hier war er ungeschützt. Er rutschte auf den Knien hinter eine Serverreihe? genau in einen Menschen. Besser gesagt, eine Frau. Er war genauso überrascht wie sie, offensichtlich. Für einen Bruchteil einer Sekunde starrten sie sich kurz an. Sie trug eine Augenklappe, die eine riesige Narbe in ihrem von graublonden Haaren eingerahmten Gesicht etwas kaschieren sollte. Offensichtlich war sie nicht mehr die Jüngste, und trotzdem hielt sie ein klobiges Vengeance-Sturmgewehr in ihren Händen.
?Tag.?, meinte Ishtar trocken, und schlug es ihr urplötzlich aus den Händen, als er von den Knien aufsprang. In hohem Bogen flog das Teil in die hinterste Ecke des Serverraums und schlug mit einem lauten Klackern auf, als die Patronen aus dem nun geöffneten Magazin rollten. Die Frau mit der Augenklappe holte im Gegenzug aus, doch Ishtar ergriff sie an ihren Handgelenken. Er, er war stärker. Nicht nur biologisch, sondern auch technisch. Das Gefühl der Überlegenheit. Ihr Blick war voller Zorn, als er sie zu Boden presste. Ushtar schoss nicht mehr. Der letzte Mensch war wahrscheinlich erledigt.

Er spürte, wie seine messerscharfen Klauen in das Fleisch der Frau stachen, doch er drückte nicht fest zu. Als sie mit dem Rücken im Staub lag, presste er seinen Fuß auf ihre Brust, sodass seine sichelförmige Daumenkralle sich genau über ihrem intakten Auge befand, während er ihre Hände am Boden festhielt. Er lehnte sich über sie, senkte seinen Kopf über ihren. Zorn, das spürte er. Sie gab nicht auf. Es amüsierte ihn - die Menschen würden nicht aufgeben. Genauso wenig wie Mrs. Augenklappe, die unter ihm im Dreck lag und gleich ihr anderes Auge verlieren würde. Dazu hatten sie zu viel verloren, damals im Erstkontaktkrieg. Ein spöttisches Grinsen umspielte zuerst seine Lippen, und dann war es ein fast hysterisches Lachen. Er spürte, wie sie da war, wie sie ihn umarmte? sie presste sich an seinen Körper, genauso wie sie ihren rechten Fuß auf die Brust der Menschenfrau drückte. Diese musste wohl denken, er sei wahnsinnig, und, nun ja, irgendwie war er das, er hatte damit abgeschlossen. Er ermordete gerne Menschen und nahm reihenweise Psychopharmaka, um seine dunklen Erinnerungen und Triebe zu unterdrücken - ein Psychopath aus dem Bilderbuch! Dieser Gedankengang war nicht gerade hilfreich, um seinen Lachkrampf zu unterdrücken.

??Tschuldigung??, sagte er kichernd auf Universal. ?Sorry, ich fand das nur grade verdammt witzig.? Die Frau wehrte sich immer noch. Ihr Blick war nun von einer Mischung aus Ekel und blanker Wut durchsetzt. ?Ich find?s witzig? ich hab wahrscheinlich gerade zwei deiner Freunde gekillt. Und deine andere Freundin?? Er nickte mit dem Kopf in beide Richtung, um das letzte Wort bedeutsam zu unterstreichen. ?? die ist von meinem Helferlein mit dem Gewehr umgenietet worden. Und du? du kämpfst immer noch. Du gibst nicht auf.? Er grinste wieder breit, sodass sie jeden einzelnen seiner Reißzähne sehen konnte. ?Das ist luuuustig!?
Plötzlich verspürte er einen Schmerz in der Magengegend, einen ruckartigen Schub von unten. Er richtete sich auf, die eine Hand immer noch am Handgelenk der Frau, die andere fuhr instinktiv zu seinem Bauch. Ein Fehler. Die andere Hand traf ihn urplötzlich an der Schnauze, und er stolperte von der Frau hinunter nach hinten weg. Ein schrilles Piepsen, das durch sein Gehirn schallte. Er musste würgen, als ein klein wenig Erbrochenes sich in seiner Speiseröhre sammelte. Neben ihm traf ein Schuss in den Server, an den er sich legte. Die Frau mit der Augenklappe richtete sich gerade auf, hatte jedoch keine richtige Waffe mehr zur Hand. Wer hatte geschossen?

Als Ishtar sich umdrehte, um wegzurennen, hörte er Illaq schreien. ?ISHTAR!?
Fuck, dachte er sich. Fuck, fuck, fuck! Die andere (totgeglaubte) Menschenfrau tauchte am Ende des Ganges auf, und sie trug das schwere Gewehr des Hünen, dem Ishtar die Kehle zerquetscht hatte. Den Gedanken, Mrs. Augenklappe mit einer kurzen Salve aus der SMG ins Grab zu befördern, verwarf er ruckartig und sprang mit aller Kraft über einen der Server und zog sich auf die andere Seite. Er spürte noch, wie die Kugeln an ihm vorbeisausten. Fuck, fuck, fuck! Ein, zwei verdammte Treffer könnten sein Tod sein. Auf der anderen Seite fiel er auf den staubigen Boden und rappelte sich sofort auf. Er rannte durch die Gänge, während er immer noch Gewehrfeuer hörte, das irgendwo in seiner Nähe einschlug. Er sah die drei anderen hinter dem Wartungseingang an der Seite des Hubs, sie waren schon draußen im Abendlicht. Die Gasse vor ihnen war in Schatten gehüllt. Illaq stützte Ushtar, der sich die linke Schulter hielt - Blut. Scheiße! Er trat nach draußen, aus dem Serverhub raus, und kickte die Metalltür hinter sich zu. Rasha sah nach hinten, zu Ishtar, dessen gesamte Ausrüstung mit feinen, roten Blutspritzern übersät war. Sie waren fünfzig Meter entfernt, und er rannte, rannte. Das Exoskelett trug ihn.

Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, und Ushtars Körper wölbte sich, als er seine Brust nach vorne stieß. Er schrie, so laut, dass man es wahrscheinlich überall in der Siedlung hören konnte. Sein Rücken färbte sich urplötzlich rot, und Ishtar sah, wie vorne und hinten das Blut herausfloss. Durchschuss. Illaq ließ los, und Ushtar fiel mit dem Bauch zuerst zu Boden.
?SCHARFSCHÜTZE!?, rief Ishtar. ?RENNT WEG!?
Rasha zerrte an Illaq, der an dem am Boden liegenden Ushtar rüttelte. Schon jetzt war die Blutpfütze im Sand enorm groß. Er schrie ihn an, fast wie ein kleines Kind, das den Tod nicht verstand. Komm zurück, das sagten sie immer. Rasha hatte das Sturmgewehr und ein paar Magazine aufgelesen, und riss Illaq vom Sterbenden weg. Er hustete Blut, das aus seinem Mund genau auf den Boden floss. Ein Schrei hallte durch die Gassen, als Illaq ein letztes Mal die Hand ausstreckte. Der Scharfschütze schoss noch einmal, irgendwo knapp neben sie in den Sand. Staub wurde aufgewirbelt.
?RENNT!?, schrie Ishtar. ?VERDAMMTE SCHEISSE, RENNT!? Er war nur noch ein paar Meter entfernt.

Sie rannten.

Ushtar blieb liegen, und hustete ein letztes Mal Blut, das sich mit dem Wüstensand vermischte. Dann schwieg auch er.

ishtar.

Sprache, Gewalt.

?Spüren Sie es??
Er sagte nichts. Sein Körper war zusammengesunken, wie er im Sessel saß, genauso wie sein Kopf zur Seite gekippt war. Den Blick zu Boden gerichtet, aber irgendwo in der Luft dazwischen hörte er einfach auf. Wenn er gekonnt hätte, hätte er seine Augen nach innen in seine Augenhöhlen gedreht, damit er nicht mehr alles um sich herum anstarren musste, ohne Fixpunkte.
?Es ist vorbei.? Doktor Krorin atmete einmal schwer, und legte die Hände in seinen Schoß. ?Ishtar.?
Sein Blick driftete weiter ab in Richtung Boden. Sie hatten ihm haufenweise Verbände angelegt und auf jede kleine Wunde an seinem Körper ein Pflaster aufgeklebt, doch es änderte nichts daran, dass sie eine riesige klaffende Wunde in seiner Seele nicht verarzten hätten können. Die Pillen und Infusionen, die sie ihm massenhaft eingeflößt hatten, um ihn zu beruhigen, hatten nichts daran geändert.
?Ishtar. Er ist weg, hören Sie??
Sie hatten ihn nach der Nacht auf dem OP-Tisch gefunden, gefesselt und geknebelt. Und immer noch splitterfasernackt. Eine der Schwestern hatte gesagt, dass sie noch nie jemanden mit so weit aufgerissenen Augen gesehen hatte. Ishtar konnte sich haargenau an jede Sekunde erinnern. Jede. Sekunde. Wie er sich gewunden hatte, um Seraths Fängen irgendwie zu entkommen, als dieser sich auf ihn gesetzt hatte. Seine panischen Schreie in das Tuch in seinem Mund, als Rasha vor ihm immer wieder gestorben war. Manchmal durch andere. Manchmal durch ihre eigene Hand. Manchmal durch ihn.
?Was hat er Ihnen angetan??
Du bist schuld. Das hatte sie gesagt. Immer wieder. Er hatte sich nicht abwenden können, er konnte nur in ihr Gesicht sehen? in die bernsteinfarbenen Augen.
Krorin schüttelte ihn an der Schulter, als er sich über den Schreibtisch lehnte.
?Was hat er Ihnen angetan??
Ishtar sah weiter Richtung Boden. Seine Lippen waren aufgeplatzt und spröde, blutig, genauso wie so gut wie jeder Fleck seines Körpers. Die Pillen blendeten die Schmerzen aus.
Er wandte seinen Blick zum Doktor, doch seinen Kopf ließ er weiter schief gen Boden hängen. Was hat er mir angetan, dachte er. Was hat er mir angetan?
?Ich bin schuld.?, flüsterte Ishtar leise, und starrte zurück auf den Boden.


Es stank erbärmlich.
Sie waren ein ganzes Stück durch die Gassen gerannt, und es hätten jederzeit irgendwelche Menschen um die Ecke kommen können. Ein, zwei Schüsse, am besten in die Beine oder den Körper, dann wären sie genauso wie Ushtar in den roten Sand gefallen. Vielleicht hätten die Menschen sie verbluten lassen, eine ganz perverse Art und Weise zu sterben. Auf der anderen Seite hätten sie sie, mindestens genauso krank, direkt umbringen können. Noch ein Schuss irgendwo in den Kopf, dann wäre Ruhe gewesen, sie hätten schließlich auch nicht die Sauerei wegmachen müssen. Am Wahrscheinlichsten wäre aber gewesen, dass die Menschen sie genommen hätten, auf irgendeinen Müllhaufen geworfen hätten und sie vor ihrem Ableben noch ein bisschen gequält hätten. Mit einem Messer, einem rostigen Rohr, vielleicht auch sonst wie.
Das war aber nicht passiert. Stattdessen hatten sie sich nach fast fünf Minuten Dauersprint in einem alten Wohnhaus verschanzt, erst die Treppe hoch in den dritten Stock und dann in die hinterste Ecke des Wohnzimmers. Teilweise lagen noch alte Teppiche herum, Holzstücke von zerborstenen Möbeln, sowie einige zersplitterte Teller. Alles begleitet vom allgegenwärtigen roten Staub, der sich fast dünenartig in den Ecken des Raumes angesammelt hatte.
Aus einem der Hinterzimmer stank es so bestialisch, dass Illaq sich zu aller erst verweigert hatte, die Wohnung als kurzzeitigen Unterschlupf zu verwenden. In einem Hinterzimmer lagen zwei vollkommen zermatschte (wahrscheinlich mit einigen beherzten Stampfern behandelte) Lar-Eier. Wenn man genau hinsah, konnte man die Züge der Föten sehen, die dort drin herangewachsen waren. Begleitet wurde der Gestank, der aus den sich langsam zersetzenden Proteinen des Eiklars entstand, von zwei Leichen, die auf einer von trockenem Blut durchtränkten Matratze lagen. Die Fliegen hatten sich schon auf ihren schuppigen Körpern gesammelt. Rasha hatte kurz hineingeschielt, sich dann aber abgewandt. Man hatte gesehen, dass in ihrer Kehle dieses Gefühl der Übelkeit aufgestiegen war. Wie ein Kletterer an einer Steilwand, der langsam dort hochkrabbelte.
?Sie umarmen sich, die Leichen??, hatte sie leise gefiept. Jemand hatte sie wohl im Schlaf erschossen, anders war das nicht zu erklären. Ein Liebespärchen, das hier auf einer ranzigen Matratze sein Ende gefunden hatte. Der Gestank, der von ihnen und ihren ?Kindern? ausging, machte diesen Gedanken nicht gerade romantischer.

Dann hatten sie geschwiegen. Eine ganze Weile hatte keiner etwas gesagt. Illaq hatte sich demonstrativ mit dem Blick zur Wand gestellt, während Rasha inmitten des ehemaligen Wohnzimmers stand und ins Leere starrte. Ihr Blick war betrübt, wie ihre Augen- und Mundwinkel leicht nach unten hingen. Wenn man genau hinsah, konnte man sehen, wie sie Ushtars Sturmgewehr immer wieder an ihre Brust drückte. Überall fein verteilte Blutspritzer, auf der Waffe und auf ihrem Körper.
Ishtar hingegen hatte sich auf den Boden gesetzt und sich eine Pille in den Mund gesteckt. Pillen waren die einzige Lösung, wenn er an irgendetwas zweifelte. Sie lösten sich in seinem Mund auf, wie all die dreckigen Gedanken, die in seinem Kopf herumkreisten. Aus einem zu kleinen, flachen Zylindern gepressten Pulver wurde ein weicher Schaum, der seinen Rachen langsam hinunterfloss. Er hätte die Frau mit der Augenklappe direkt umbringen sollen. Nicht rumspielen mit dem Auge und der Kralle, sondern einfach eine Kugel zwischen die Augen gesetzt? peng.
Wenn er genau hinhörte, konnte er Illaq leise winseln hören. Er lehnte sich nach vorne, während er sich mit einem Arm an der staubigen Wand abstützte. Sein Kopf, mitsamt dem sperrigen Nachtsichtgerät, hing nach unten, mit dem Blick zu Boden.
Ishtar sah hinunter auf seinen Körper. Blutbefleckte Klauen an Händen und Füßen, die vor ein paar Minuten noch im Hals und Körper von zwei Menschen gesteckt hatten. Verdammte Scheiße. Teilweise hatte es ihm sogar genau ins Gesicht gespritzt, knapp neben sein linkes Auge, und sonst überall auf seine Ausrüstung.
Es war eine ganze Weile so still, bis auf das leise Fiepen, das den stinkenden Raum erfüllte.

?Ich werde diese Schlampe umbringen.? Illaq schlug einmal mit seiner Faust gegen die Wand.
Ishtar sah auf.
?Ich werde sie finden und sie erledigen. Durchschuss.?, sagte er entschlossen voller Wut. Seine Faust zitterte an der Wand. Er würde sie nicht davon lösen. ?Und dann geh ich zu ihr hin und reiß ihr letztes Auge heraus, bevor sie endgültig verreckt.?
?Illaq??, flüsterte Rasha leise. Sie umklammerte das Sturmgewehr fester.
?NEIN!? Illaq fuhr herum. Sein Gesicht war von Zorn verzerrt. Erneut war es eine Weile still, abgesehen von Illaqs schwerem Atem. Seine Schultern hoben und senkten sich mit jedem Atemzug. ?Ich werde sie sofort erledigen, wenn ich die Gelegenheit dazu habe.?
Ishtar stand auf. Oder vielmehr, baute sich auf. ?Illaq, hör mit der Scheiße auf. Wir bringen die Daten zum Captain und dann??
?Halt die Klappe.?, unterbrach ihn Illaq. Es war wieder kurz still. In der Ferne ratterte ein Maschinengewehr.
?Sag das nochmal.?, sagte Ishtar trocken.
?Halt die Klappe.?
?Nochmal.?
?Halt. Die. Klappe.? Illaqs Blick verfinsterte sich. ?Ich scheiß auf die verkackten Befehle des Captains!?
?Lass das Persönliche raus. Wir haben Befehle.?
?Sag mir nichts vom Persönlichen!?, schrie Illaq. Er zeigte auf seine Brust. ?Glaubst du, dass hier irgendwer freiwillig ist? Glaubst du, irgendwer ist hier nicht aus ?persönlichen Gründen? in diesem scheiß Drecksloch am Arsch der Galaxis??
Rasha schwieg weiter. Ihr Blick hatte sich zu Boden gesenkt.
?Verdammte Scheiße, Ishtar, mein Partner, den ich seit Jahren kenne, mit dem ich zusammen seit einer Ewigkeit zusammen bin, wurde grade erschossen! Durchschuss. Möchtest du gerne die zerfetzten Organe und das Blut deiner toten Freunde sehen? Hm??
?Sag mir nichts vom Tod.? Ishtar trat einen Schritt auf Illaq zu. ?Ich hab zu viele Leute neben mir sterben sehen. Als ihr eure ersten Einsätze am Ende des Krieges hattet, ja, da war ich schon seit Jahren dringesteckt. Und da sind eine Menge Leute, die ich gut kannte, gestorben.? Die ganze Geschichte musste er sicher nicht erzählen. Die ganze? Sache. Hallo Ishtar, flüsterte sein Hinterkopf.
Illaq trat auch auf ihn zu. Nun standen sie sich genau gegenüber. ?Weißt du was, Ishtar??
?Sag?s mir.?
Sein Gegenüber grinste dreckig. ?Du bist ein mieser, herzloser Arsch.?
Ishtar dachte kurz nach. Er hatte etwas festgestellt. Jeder hier hatte seine Fassade, hinter der sich sein persönlicher Abgrund befand. Und ein Abgrund war meist tiefer, als man dachte. Meistens hörte man es nicht mehr, wenn man irgendetwas hineinwarf und wartete. Er hatte es bei Rasha, der doch so kalten und fixierten jungen Frau gesehen, die minutiös ihre Befehle ausführt? aber dann doch die Kontrolle über sich verloren hat. Ishtar dachte an den halbtoten Lar auf der Straße, der von den Menschen aus dem Haus gezogen wurde. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Was auch immer sich hinter Rashas Fassade befand, es war ihr Antrieb. Irgendwas wie Gerechtigkeit oder Rache. Er würde es sicher noch irgendwann erfahren. Und der Captain zum Beispiel... war ein animalisches Monster, getrieben vom Blutdurst und einer fast schon sexualisierten Lust nach Gewalt. Perversling. Illaq hingegen? seine Fassade war bröckelig, und der Tod Ushtars war sowas wie eine Abrissbirne gewesen. Irgendwie war da wohl mehr gewesen, als Illaq zugab. Hinter der ganzen klischeehaften Scharfschützengeschichte, schweigsam und direkt, stand wohl jemand vollkommen anderes, der hier eigentlich nicht sein wollte. Außer jemand hatte ihn hierher gebracht. Jemand, für den er mitkommen würde, auch in die Hölle.
Nun musste Ishtar auch grinsen. ?Und du, Illaq, bist eine kleine Schwuchtel.?

Plötzlich spürte er einen Schlag in seine Magengrube. Er fuhr zusammen, und es folgte ein Schlag in sein Gesicht. Bevor er reagieren konnte, trat ihm Illaq mit aller Kraft auf den linken Fuß.
?NEIN!?, schrie Rasha und stürmte auf sie zu. Ishtars Fuß und Gesicht pulsierten vor Schmerz, in seinen Ohren piepste es in einem der schrillsten Töne, die er je gehört hatte. Er fuhr nach vorne und ergriff Illaq an der Brust, er spürte wie sich seine mit trockenem Blut umhüllten Krallen durch die Weste in die Haut des anderen Lar bohrten. Rasha drückte sich zwischen sie und zog Ishtar ruckartig am Schwanz.
?ISHTAR!?
Er hob Illaq an, und sein Exoskelett surrte leise mit der Bewegung. Die Füße des anderen Lar hoben sich vom Boden, und er musste keuchen. Sein Kopf sank leicht nach unten ein, er hing wie ein nasser Sack in Ishtars Händen. Wenn Ishtar ihn so für eine Weile halten würde, würde er ersticken. Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es heraus. Wenn er Illaq umbringen würde, wäre Ruhe. Rasha würde er dann los seien, sie würde verschwinden? er wäre ein Mörder. Ein Soldat, der einen anderen Soldaten getötet hat. Ein Wahnsinniger!
?HÖR AUF!?, winselte Rasha. Sie presste sich zwischen Ishtar und Illaq, der wiederholt nach Luft schnappte.
Es erinnerte ihn an die Rasha, die er einst gekannt hatte, vor langer Zeit. Bis sie gestorben war. Ein Durchschuss, sie hatten noch versucht, sie irgendwie zu retten. Und dann? du bist schuld, hatte er gesagt, immer wieder in dieser Nacht. Er hatte sie im Stich gelassen. Seine Schuld. Als diese Rasha einmal mit Ishtar an der Front stand, hatte sie es auch immer so gesagt. ?Hör auf!? Sie war die einzige, die noch bei klarem Verstand gewesen war. Nicht zugedröhnt mit Drogen, Medikamenten, Propaganda und blankem Hass? er hatte die Menschen dann verschont. Ein Schatten, der im Rauch der Schlachtfelder wieder verschwunden war.
?HÖR AUF!?
Er ließ Illaq los. Mit einem lauten Poltern fiel er auf den staubigen Boden und schnappte mit zischenden Atemzügen nach Luft. Einen Schritt zurück.
Sie schwiegen. Illaq sah auf, und starrte Ishtar an. Eine Mischung aus blankem Hass und dieser gewissen Perplexität.

?Klaren Kopf behalten. Klaren Kopf behalten.?, wiederholte Ishtar mehrmals. Illaq richtete sich auf und klopfte den Staub von seinen Klamotten. Nun standen sie in einem Dreieck, jeder gegenüber den anderen zwei. ?Wir brauchen einander. Ok. Kein Bullshit.? Er wusste, das Illaq allerhöchstens mit bis zum Captain kommen würde? und dann war Ishtar der Rest sowieso egal. Von ihm könnte sich Illaq dann vor einen Mecha werfen oder an die Front stellen, um sich von menschlichem Maschinengewehrfeuer durchsieben zu lassen.
Rasha nickte leicht ab.
?Wir sind angeschlagen. Ich kann euch verstehen?? Er schnaufte. ?Wir müssen es nur zu Ende bringen. Danach ist Schluss. Dieses USB-Ding zum Captain bringen, Überleben, Punkt.?
Illaq starrte ihn weiter an. Sie müssten ja auch keine Worte wechseln. Solange er ihm irgendwelche Menschen vom Leib hielt, war alles ok.
?Die Sonne geht bald unter. Wir können bis Mitternacht wieder am Markt sein. Die Menschen sind uns jetzt aber auf den Fersen. Bestimmt schickt Vengeance jetzt Abfangtruppen, wir können nur hoffen??
?Dass Ethertec das auch tut.?, unterbrach Illaq ihn. ?Tosh meldet sich nicht, wahrscheinlich ist er gejammt. Störsender oder so.? Was für ein abschätziger Tonfall.
?Rasha.?, sagte Ishtar schließlich.
Sie sah auf und umklammerte das Sturmgewehr. ?Ja.?
?Mein Tipp. Alles, was auf dich schießt, muss dran glauben. Ob mit Armbrust, Messer, Pistole oder Sturmgewehr. Du hast jetzt ja die Wahl.?
Keine Regung. Die gewisse Flapsigkeit sollte eigentlich die Situation auflockern, stattdessen nickte sie nur schweigend.
?Und du, Illaq??
?Hm? Wie bitte?? Oh Gott, noch diese Ironie. Heute Abend war er ihn los, heute Abend.
?Pass einfach auf, was so passiert. Nachtsichtgerät und Fernglas.?
?Hm.? Sehr überzeugend. Illaq würde bestimmt heute Abend auch mal sein Scharfschützengewehr benutzen dürfen. Es gab für ihn bestimmt nichts Spaßigeres, als Menschen den Kopf wegzupusten.
?Ich mach einfach das, wozu ich gebraucht werde. Ist ja mein Job.? Ishtar ließ seine Schulter dazu kreisen, wozu sein Exoskelett fast schon bejahend summte. ?In Bewegung bleiben und alles abchecken, im Notfall feuern. Sonst verdeckt bleiben. Klar?? Die zwei nickten noch einmal leicht ab. Eine Truppe mit echtem Zusammenhalt ging anders. Wenn noch einer sterben würde, hätten sie echte Probleme.
?Lasst uns aus dieser stinkenden Bude rausgehen. Ich kann keine verwesenden Leichen mehr riechen, am Ende muss ich noch kotzen. Lasst uns die Scheiße einfach zu Ende bringen.?


Larnet. Kurz vor Ende des Erstkontaktkrieges.

Stabile Verbindung. Sicherung assymmetrisch-symmetrisch-koaxial.
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Tech ist offline. Amygdala ist tot, Cerebellum ist verschwunden, und Thalamus... fangen wir gar nicht erst an.
Nein, wir können nichts ändern. Coryphaeus ist dahin und damit auch der Rest des Projekts, bei dem uns reihenweise die Probanden weggestorben sind.
Verschwendetes Geld, wie sie es sagen. Die Erfolge halten sich in Grenzen. Vor allem die Drohnengeschichte funktioniert nicht so wie geplant.
Wir werden es sehen.
Thalamus verhält sich seltsam. Wir glauben, dass sein Verhältnis zu Amygdala... sagen wir es mal so, das System in seinem Gehirn verstärkt es.
Schizophrenie, um genau zu sein.
Korrekt. Die Pillen unterdrücken es vielleicht eventuell nur temporär, die Abstoßung der Systeme ist aber ein kontinuierlicher Prozess. Sie verhindern es nicht.
Ja.
Er wird die Pillen weiterhin erhalten, damit wir alles analysieren kann. Er ist wahrscheinlich noch einsatzfähig.
Wir haben ihn gestern Morgen in einem ziemlich schlechten Zustand im OP gefunden.
"Schlechter Zustand" bedeutet, dass Cerebellum... naja. Ich möchte nicht zu sehr ins Detail gehen.
Ja.
Ich weiß, der Gedanke erschaudert mich.
Psychische Schäden? Sicherlich. Die Pillen und das instabile Neurosystem werden das nicht gerade verbessern.
Wir tun unser Bestes.
Es tut uns leid. Die Dinge haben sich nicht zum Besten entwickelt, um ehrlich zu sein.
Wir konnten Cerebellum nicht aufspüren oder eine Spur verfolgen, er hat sich seinen Tracker selbst entfernt.
Im OP auf dem Tisch, mit einem Skalpell. Unterarm aufgeschnitten und mit den Krallen herausgebohrt.
Ohne Narkose.
Sehr wohl. Wie ich einst gesagt habe... der Wahnsinn ist näher, als man es glauben mag.
Wie versprochen.
Auf Wiederhören.

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Aufzeichnung abgeschlossen.