Ich bekam kürzlich eine E-Mail von der Person, mit der ich in St. Petersburg gearbeitet habe, mit der ich viel Streit und Hass ausgetragen habe, der sich nun nach vierjähriger Funkstille in einen herzensoffenen E-Mail-Kontakt verwandelt hat. Sie war ein halbes Jahr nach dem Ende unserer Zeit nochmal dort (ich dagegen erst diesen Juni), und sie schrieb in einer Mail:

"Ich für meinen Teil habe danach seltsamerweise gut damit abschließen können, weil schon der kleine Zeitabstand gereicht hat, um nicht mehr so involviert zu sein und zu verstehen, wie unglücklich ich da gewesen bin und dass ich unmöglich mein ganzes Leben freiwillig so unglücklich sein kann."

Und bezüglich der Kinder, die wir dort betreut haben und von denen einige großgeworden und weggegeben worden, andere gestorben sind und einige sich kaum verändert haben:

"Ich hatte sie wirklich lieb. Nicht nur so, wie man eben als junger Mensch Kinder auch ganz süß findet, vor allem wenn man an ihnen seinen Helferkomplex zugunsten der entstehenden eigenen Identität ausleben kann, sondern eben wirklich mit einer ziemlich intensiven emotionalen Verbindung. Und sie - ohne ihnen irgendwie helfen zu können - in einem Leid zu wissen, für dass es eigentlich keine richtigen Worte gibt, ist eine der ungeheuersten emotionalen Erfahrungen, die ich bislang in meinem Leben gemacht habe."

Entschuldige, Wishy, ich weiß, das sind keine Passagen aus einem Buch, aber ich musste das einmal zitieren, weil ich beim Lesen dieser Absätze geweint habe, sie seitdem immer und immer wieder lese und das Gefühl habe, dass jemand da etwas sehr Elementares in Worte gefasst hat, nach denen ich schon jahrelang suche.

Nun gebe ich das Feld wieder frei für Buchzitate (übrigens eine sehr schöne Thread-Idee!).

Ich höre gerade als Hörbuch "Erinnerungen an Petersburg" von Joseph Brodskiy (auch erschienen als "Erinnerungen an Leningrad") und ich muss immer wieder schlucken bei einer Stelle, die vom Verlag auch als "Klappentext" auf der Schachtel ausgewählt wurde:

Es war einmal ein kleiner Junge. Er lebte im ungerechtesten Land der Welt. Das von Wesen regiert wurde, die nach aller menschlichen Einschätzung als entartet hätten angesehen müssen. Was nie geschah.
Und da war eine Stadt. Die schönste Stadt auf dem Antlitz der Erde. Mit einem unermesslichen grauen Fluss, der über ihren fernen Ausläufern hing wie der unermessliche graue Himmel über diesem Fluss.
An diesem Fluss standen prachtvolle Paläste mit so wunderschön gestalteten Fassaden, dass, wenn der kleine Junge am rechten Ufer stand, das linke Ufer aussah wie der Abdruck einer riesigen Molluske namens Zivilisation. Die ausgestorben war.

Ich kann vieles nicht so schnell transkribieren, wie ich gerne möchte, aber es berührt mich so tief, was Brodskiy schreibt, an so vielen Stellen, dabei habe ich bisher nicht einmal eine Stunde gehört. Seine Wehmut, seine Wut, stellenweise sein Hass, seine schonungslosen Analysen von Menschlichkeit und den Strukturen eines gesellschaftlichen Systems, das trifft die Dinge, wie es mir scheint, im Kern und ist trotz des nüchtern-trockenen Tonfalls extrem bewegend.