Da in letzter Zeit herzlich wenig Texte und Kommentare dazugekommen sind, füttere ich das Forum jetzt einmal mit einem Kurzkrimi, den ich für als Hausarbeit für ein Germanistikseminar geschrieben habe - in der Hoffnung auf Feedback. Ich freu mich wirklich über jeden Kommentar. Auch wenn ihr euch die Geschichte nicht ganz durchgelesen habt. Auch, nein gerade, wenn ihr kritisch seid. Also, bitte, bitte, geigt mir die Meinung!!!
Hellhörig - ein Kurzkrimi
?Habt ihr sie vielleicht gesehen?? Die Musik ist aus, die Party vorbei. ?Keine Ahnung, eben war sie noch da.? Oder fängt sie jetzt erst richtig an? ?Sie kann doch nicht einfach weg sein!? Polternde Schritte, suchende Schritte. ?Leute, jetzt helft doch auch mal mit!? Jemand fehlt. Jemand ist fortgegangen und nicht zurückgekehrt. ?Loni?? ?Loni! Bist du hier irgendwo?? Der Jemand ist eine Frau und heißt Ilona. Und bis vor kurzem war sie noch das Zentrum aller Aufmerksamkeit, wie immer. Aber jetzt ist sie fort, und die Menge da oben ratlos. Durch die rissige Kellerdecke dringen erneut verwirrte Stimmen. ?Irgendwo muss sie doch sein!? ?Loni! Mann, so ne Scheiße.? ?Wir müssen nach ihr suchen. Vielleicht geht?s ihr nicht gut!? Ja, vielleicht. Planlos und mit viel Fußgetrampel reißt die Meute eine Tür nach der anderen auf ? nur um sie kurz darauf frustriert wieder zuzuknallen. Oft mehrfach hintereinander. Im Keller ertönt der froh gelaunte Klingelton eines Handys. Doch auch beim vierten ?Don?t worry, be happy!?, geht niemand dran. Endlose Minuten später poltern Schritte die Treppe hinunter. Hastig, mit klackernden Absätzen. Auch diese Partymaus scheint schon einige Gläser intus zu haben, denn mehrmals stolpert sie auf der knarzenden Stiege. Unten jedoch erwartet sie eine kleine Überraschung: Die Kellertür lässt sich nicht öffnen. Ein paar Mal rüttelt sie halbherzig an der massiven Tür. Ein klägliches ?Loni? Bist du da drinnen??, ist zu hören, gefolgt von einem flehendem ?mach doch bitte auf, ja??. Aber es ertönt natürlich keine Antwort. "Kann mir mal jemand helfen?", die Tussi gerät jetzt hörbar in Panik. "Leute! Ich glaub Loni ist da drin!" Ihre Rufe bleiben nicht ungehört. Ergebene Jungenschritte nähern sich, etwa zwei oder drei Kerle müssen es sein. Ganz nüchtern sind auch sie nicht mehr. Einer kichert pausenlos vor sich hin, ein anderer reißt das Geländer fast aus der Verankerung. "Meinst du echt, die ist da drin?" Endlich, das Klimpern eines Schlüsselbundes. "Keine Ahnung", jammert das Mädchen, ?aber irgendwo muss sie ja sein..." Erfolglos stochert sie mit den Schlüsseln herum. ?Da passt keiner!? "Lass mich mal", einer der Jungs scheint noch nicht ganz so hacke zu sein, ?ich bin mir ziemlich sicher, dass das der Richtige ist.? Aber keiner der Schlüssel passt auch nur einen Zentimeter ins Schloss. Kein Wunder, denn von innen steckt ein zweiter Kellerschlüssel in der Tür. ?Sie hat sich eingeschlossen?, stellt er fachmännisch fest, ?Loni, mach auf! Oder sollen wir die Tür eintreten??
Kurz darauf kracht die Tür auf. Drei Gestalten taumeln nacheinander in die Dunkelheit. Der Junge mit dem Schlüssel, die hochhackige Partymaus und noch einer mit schlurfendem Gang und grell blinkenden Schuhen. Benommen bleiben sie stehen. Durch ein winziges Fenster glimmt spärlich das Licht einer Straßenlaterne und malt orangene Schatten an die kahlen Wände. ?Gibt es keine Deckenlampe??, die Stimme des Mädchens bebt. ?Ich glaub die ist kaputt?, auch der Junge hinter ihr klingt unsicher. ?Unheimlich.? Suchende Blicke schweifen durch den Raum, sich langsam an das Zwielicht gewöhnend. Wandern von der uralten Nähmaschine über die lebensgroße Kleiderpuppe in weit ausladendem, bodenlangem Kleid zu den Rohren an der Decke. Und sie bleiben dort hängen, denn an einem der Rohre baumelt ein Mensch. Oder das, was mal ein Mensch war. Mit einer Wäscheleine aufgehängt, das Gesicht seltsam verquollen und bläulich angelaufen. Darunter liegt ein umgestoßener Stuhl, die linke Fußspitze streift den Boden. "OH MEIN GOTT!" Es ist das Mädchen, das schreit. Laut und schrill und markerschütternd. ?Scheiße, das kann ? ich ? scheiße?, stammelt der Junge mit dem Schlüssel. Dieselbe Stimme, die eben noch so albern gekichert hat. Sein blinkender Begleiter scheint zu keinem Wort fähig. Unmöglich zu sagen, ob seine Pupillen sich vor Schreck geweitet haben, oder er unter dem Einfluss irgendeiner Droge steht. Leise wimmernd presst sich das Mädchen die Hände vor den Mund. ?Wir müssen die anderen holen?, krächzt der Schlüsseltyp heiser. ?Und die Polizei!?, schluchzt das Mädchen. ?Das sehn wir dann, erstmal? hol ich die andern.? Kurz bevor er aus der Tür ist, dreht er sich noch einmal um. ?Fasst nichts an, ja?? Und damit fällt die Tür hinter ihm ins Schloss. Beklommen bleiben die andern beiden im Zimmer stehen. ?Vielleicht ist sie ja noch gar nicht tot?, sagt das Mädchen in die Stille hinein, ?vielleicht können wir sie noch retten!? ?Die ist tot?, antwortet der Junge mit den blinkenden Schuhen, ?guck doch mal wie blau die ist.? ?Wir sollten das Seil lösen.? ?Ich fass die auf gar keinen Fall an!? ?Dann mach ich?s eben alleine.? Mit zusammengepressten Lippen ruckelt das Mädchen an der Schnur herum, die sich tief in die Haut der Toten eingegraben hat. ?Jetzt hilf doch auch mal mit!? Widerstrebend kommt der Junge näher. ?Du musst Loni anheben, sonst ist das Seil zu straff.? ?Ich hab doch gesagt, ich fass die nicht an.? ?Jetzt mach schon!? Angeekelt umfasst er Lonis Beine. ?Beeil dich, die ist verdammt schwer!? ?Moment noch!? ?Ich kann nicht mehr!? ?Ich hab?s gleich?? ?Ich lass jetzt los!? ?Warte!? Ein kräftiger Ruck geht durch das Rohr, als der Körper nochmals in das Seil fällt. ?Spinnst du? Ich hatte es fast!? ?Weißt du wie schwer die ist??, sein Blick gleitet zur Decke, ?oh scheiße, guck dir mal das Rohr an.?
In diesem Moment fliegt die Tür auf. Eine aufgekratzte Menschenmenge entert den Keller. Einer nach dem anderen stolpern sie in den finsteren, kleinen Raum. Etwa zehn Leute müssen es sein, niemand davon viel älter als zwanzig. Und der Typ mit dem Schlüssel ist auch wieder da. ?Kann mal jemand das Licht anmachen??, kichert ein Mädchen mit piepsiger Stimme. ?Das ist irgendwie gruselig.? ?Halt die Klappe, Melissa.? Die Härte in der Stimme ihres Anführers lässt augenblicklich alle verstummen. ?Es ist wegen Loni, es gibt da ein Problem. Bleibt ganz cool, ja??, offenbar will er die Gruppe vorwarnen. ?Loni... sie ist... sie hat...?, er fingert nervös an dem Schlüsselbund herum, ?sie ist dort in der Ecke.? Alle drehen sich um. Niemand bleibt cool. Doch seltsamerweise schreit auch niemand. Ein kollektiver Aufschrei macht stumm seine Runde.
?OHVERDAMMT!?, durchbricht endlich ein klobiger Typ mit Sommersprossen das Schweigen. ?Loni ist tot!?, haucht das eben noch so alberne Mädchen kaum hörbar, ?sie ist tot!? ?Nein.? Der klobige Typ verschränkt abwehrend die Arme. Starrt die Leiche an, wie etwas, dass es eigentlich gar nicht geben dürfte. Als wollte er ihr verbieten, tot zu sein. ?Nein!?, brüllt er dann, vollkommen durchgedreht. ?Nein! Das kann sie nicht! Scheiße! Das kann sie einfach nicht! Scheiße!?, seine Stimme überschlägt sich fast. Erst jetzt fällt dem Schlüsseltyp der Knick in der Leitung auf. ?Was habt ihr mit dem Rohr gemacht??, fragt er scharf, ?Ihr wisst schon das da Gas drin ist, ja?? ?Wir wollten nur sicher gehen, dass Loni nicht vielleicht doch noch lebt?, wieder fängt das Mädchen mit den hochhackigen Schuhen an zu heulen. Ein anderes Mädchen, schwarzgefärbte Haare aber ungeschminkt, reicht ihr wortlos ein Taschentuch. ?Danke, Pia?, beschämt nimmt die es, und wischt sich hektisch im Gesicht herum. Erfolglos. ?Jetzt hör endlich auf zu flennen!?, fährt der klobige Junge sie an. Mann, ist der geladen. ?Das weinerliche Getue kannst du dir sparen, würd mich gar nicht wundern wenn du sie sogar selber...? ?Loni wurde nicht ermordet!?, ruft die Hochhackige schrill, ?Die Tür war doch zu! Und zwar von innen!? ?Das sagst du. Wer sagt uns denn, dass?? ?LONI WAR MEINE BESTE FREUNDIN!? ?Das kann hier jeder behaupten.? ?Ich würde sie doch niemals...? ?Umbringen? Erhängen? Sprich es ruhig aus!? ?Du bist so mies!? ?Ah, wir fühlen uns in die Enge gedrängt, hn? Wir werden wohl langsam aggressiv, was? Ich sag dir was, du kanntest Loni so gut wie überhaupt nicht, für dich war sie doch nur eine deiner vielen Shoppingfreundinnen und ich wette, so gut wie jeder hier kannte sie besser als...? Bang! Da hat ihm der Schlüsseltyp auch schon eine schallende Ohrfeige verpasst. ?Hör sofort auf mit deinen Anschuldigungen, Marvin. Es ist doch völlig egal, wer Loni wie gut kannte. Loni ist vorbei ? und wir überlegen uns jetzt gefälligst, was wir tun!? Er blickt dem Sommersprossigen eindringlich in die Augen. ?Wenn rauskommt, dass Loni sich umgebracht hat, werden die bestimmt ihre Wohnung durchsuchen und selbst wenn die dabei nichts finden, dann doch spätestens wenn die Wohnung leergeräumt und verkauft wird, klar? Uns bleibt nicht viel Zeit, was zu unternehmen, also reiß dich gefälligst zusammen, du Hitzkopf!? Der Hitzkopf schluckt. ?Was ist denn mit Lonis Wohnung??, schnieft die Hochhackige aus ihrem Taschentuch. Ungeduldig wirft der Schlüsseltyp den Schlüssel von der einen in die andere Hand. ?Alice, ich glaube das ist alles zu viel für dich. Fahr am besten einfach nach Hause.? ?Nein, ich... ich will hier bleiben!?, schon wieder treten der Hochhackigen die Tränen in die Augen. ?Du hast zu viel getrunken, und stehst bestimmt unter Schock?, bestimmt der Schlüsseltyp. Er wendet sich an die Schwarzhaarige. ?Pia, könntest du sie nach Hause bringen?? ?Das wär echt lieb von dir?, zwitschert Melissa mit ihrer Piepsstimme. Die Schwarzhaarige überlegt. ?Na schön?, sagt sie schließlich, ?ich kann dann ja auch gleich Hilfe holen.? Sie fasst die schluchzende Alice bei der Hand, ?komm, raus hier aus diesem furchtbaren Keller.? Sie wendet sich zur Tür. ?He warte, was willst du machen??, der Schlüsseltyp klingt barscher, als er es wohl beabsichtigt hatte. Fragend zieht das Mädchen eine Augenbraue hoch. ?Was wohl, ich bring Alice nach Hause und hol die Polizei.? ?Das machst du nicht, Pia.? ?Ihr habt doch selber gesagt, ich soll Alice nach Hause bringen!? ?Aber du holst nicht die Polizei!? ?Warum nicht?? ?Weil... es nicht richtig ist.? ?Ach, und warum bitteschön nicht?? ?Loni hätte es nicht gewollt.? ?Genau?, bestätigt der Schrank mit den Sommersprossen. Ungläubig runzelt Pia die Stirn. So leicht ist sie nicht zu überzeugen. ?Ach ja? Loni hätte ja wohl nicht gewollt, dass sie hier im Keller vermodert. Sag mal, spinnt ihr eigentlich total?? ?Lass es doch einfach, Pia. Du musst nicht immer alles verstehen?, piepst Melissa. Jetzt mischt die sich auch noch ein. ?Und wir machen nicht immer nur das, was du willst, klar??, ergänzt sie. ?Was??, jetzt gerät Pia doch aus der Fassung. ?Es geht doch nicht darum, was ich will! Melissa, was redest du für einen Blödsinn! Es geht darum, dass wir die Polizei anrufen, dass sich hier jemand umgebracht hat! Dass sich unsere Freundin umgebracht hat!? Ihre Stimme überschlägt sich fast, ärgerlich blinzelt sie die aufsteigenden Tränen weg. ?Was ist eigentlich los mit euch?? Betretenes Schweigen. ?Habt ihr? ihr habt sie doch nicht??? Wieder Schweigen. Erschrocken schnappt sie nach Luft. ?Das glaub ich jetzt nicht!? ?Nein.? Das ist der Kleiderschrank mit den Sommersprossen. Nein ist wohl sein Lieblingswort. ?Nein, wir haben sie nicht umgebracht.? Pia zögert. ?Das klingt nicht sehr überzeugend.? ?Wir waren das nicht. Ehrlich, wir wären die letzten, die Loni umbringen wollten.? Einträchtiges Nicken. ?Dann war es also Selbstmord.? ?Ja. Sieht so aus.? ?Loni ist in den Keller gegangen, hat die Tür abgeschlossen und sich erhängt.? ?Ja.? ?Und das glaube ich euch nicht!?, aufgebracht fährt sich Pia mit der Hand durch das schwarze Haar. ?Wenn niemand von euch was zu verbergen hätte, würden wir jetzt nicht diese Diskussion führen! Warum wollt ihr alle nicht, dass ich die Polizei rufe?? Als er sieht, dass Pias Augen erneut zur Tür wandern, stellt sich der Kleiderschrank davor. ?Pia, es ist anders, als du denkst?, versucht Melissa zu erklären. ?Ihr steckt da alle mit drin, hab ich Recht? ? Alle außer Alice und mir.? ?Was is los??, murmelt die Hochhackige, die sich mittlerweile auf dem Boden niedergelassen hat. ?Sagt schon, wie habt ihr das gemacht? Das mit der abgeschlossenen Tür meine ich?, ein lauernder Unterton hat sich in Pias Stimme geschlichen. Dann lacht sie hell auf. ?Das ist so absurd! Ich bin von Verbrechern umgeben! Alle meine Freunde sind über Nacht zu Verbrechern geworden!?, ihr Blick fällt auf die schlafende Alice. ?Oh, entschuldige, Alice, dich hab ich ganz vergessen.? Sie streichelt der Hochhackigen über den Kopf. ?Du bist viel zu dämlich, um Verbrecher zu werden, nicht wahr?? Sie wendet sich an den Schlüsseltypen. ?Na, wie fühlt man sich so, als Mörder? Irgendwelche Gewissensbisse?? ?Du bist betrunken, Pia?, knurrt der Schlüsseltyp, ?du hast keine Ahnung.? ?Ich war noch nie so nüchtern, wie heute Nacht!?, verkündet Pia gut gelaunt und zeigt wahllos auf irgendwelche Leute in der Gruppe. ?Mörder, Mörder, Mörder!? ?Halt die Klappe!?, kreischt Melissa. ?wir haben niemanden umgebracht, jedenfalls nicht Loni!? Dann fängt sie an zu weinen. ?Ohhhh?, in gespieltem Mitleid tätschelt Pia ihr die Schulter, ?brauchst du auch ein Taschentuch? Braucht ihr vielleicht alle eins?? ?Das reicht!?, brüllt der Kleiderschrank, ?hör zu, ich sag dir was passiert ist: Die Loni, die ist selber zum Verbrecher geworden, ha!, da staunst du, sie hat uns überredet, wo mitzumachen, bei einem Überfall, mit echten Waffen, die hat sie besorgt, ja, jetzt guck nicht so ungläubig, die kennt da Leute, und dann standen wir da, mit den Waffen und vor uns das ganze Zeugs und da wollte einer auf uns losgehen und plötzlich ging alles irgendwie schief, und da bin ich dann mit dem Messer auf ihn, und jemand anders hat geschossen und dann war er tot, aber das war nicht meine Schuld und wir haben schnell alles mitgenommen und das ist jetzt alles bei Loni in der Wohnung versteckt und wenn die das finden, dann ist alles aus, Raubmord, weißt du wie viele Jahre das gibt? Und jetzt ist Loni tot, warum auch immer, und wir sitzen in der Scheiße und wenn du die Polizei rufen willst?? ?Was, dann??, fragt Pia tonlos. ?DANN BRING ICH DICH VORHER UM, VERDAMMT!? Und da hat der Junge mit den Sommersprossen auch schon das schreckliche Messer aus seiner Jacke gezogen. Mit zitternden Fingern zielt er damit auf Pia, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrt. Melissa schreit gellend. ?Ich? ich sag niemandem was!?, stammelt Pia, ?es sei denn?? ?Das ist ja die Scheiße, Pia?, erwidert der Sommersprossige, ?Wir können uns nie ganz sicher sein, dass du wirklich?? Er wird sie töten, gleich wird er Pia töten. ?Ich sag niemandem was!?, beteuert Pia verzweifelt, ?wenn?? Und da tut er es tatsächlich, sticht mit dem Messer auf sie ein, trifft sie am Kopf, an der Brust, am Bauch, irgendwo da, wo es ganz sicher tödlich ist. Das Mädchen sackt in sich zusammen, die Menge weicht zurück, der Junge lässt die Waffe fallen. ?Jetzt sind wir sicher?, presst er hervor und rennt die Treppe nach oben.
Das Chaos, das er zurück lässt, ist unbeschreiblich. Alle reden durcheinander, viele weinen, manche schreien. Die Hochhackige ist aufgewacht und vollkommen verwirrt. Es dauert eine ganze Weile, bis endlich alle Tränen und Worte aufgebraucht sind. Überraschenderweise ist es nicht der Schlüsseltyp, sondern Melissa, die sich zuerst gefasst hat. Irgendetwas an dem Rohr scheint ihre Aufmerksamkeit erregt zu haben. ?Leute, riecht ihr das??, fragt sie unruhig, ?Ich glaube, hier strömt die ganze Zeit Gas aus der Leitung... Wir sehen besser zu, dass wir hier weg kommen, ich kümmere mich später um den Rest.? Sie wendet sich an den Schlüsseltyp, der kreidebleich geworden ist. ?Hilfst du mir?? Erst scheint es, als habe er sie gar nicht gehört, aber dann nickt er. ?Kommt wir gehen nach oben. Es ist spät.? Die Menge verlässt den Raum. Vorbei an Loni, die noch immer an der Decke baumelt, vorbei an Pia, die in einer entsetzlichen Blutlache am Boden liegt - und vorbei an der großen Kleiderpuppe in dem wallenden Kleid.
Ich warte noch ein paar Minuten, bis ich mich endlich darunter hervor wage. Mein linkes Bein ist eingeschlafen und ich bin todmüde. Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, seit sich die Tür geöffnet hat, aber noch eine Minute länger hätte ich es bestimmt nicht ausgehalten. Kaum zu glauben, dass das widerliche Etwas da vor mir, tatsächlich mal meine bezaubernde Freundin Ilona war, in die ich bis über beide Ohren verknallt war. Jedenfalls bis ich dann herausgefunden habe, dass sie mich von Anfang an nur benutzt hatte, um billig an Waffen zu kommen. Es war nicht ganz einfach, das Ganze als Selbstmord darzustellen, aber die Idioten da oben sind ja wirklich voll drauf abgefahren. Vielleicht habe ich sogar Glück, und die lassen die Leiche für mich verschwinden.
Dass in dieser Nacht noch jemand sterben würde, damit habe ich nicht gerechnet. Pia. Ich kenne dieses Mädchen nicht, doch sie wirkte irgendwie aufrichtiger als die andern. Und mutig war sie auch, sich allein gegen die Gruppe zu stellen. Eigentlich hätte ich sie gerne näher kennen gelernt. Wo ich doch jetzt wieder Single bin.
Mit ihrem Tod habe ich nichts zu tun. Das war Marvin, dieser Verbrecher. Ich hoffe der ganze Einbruch fliegt auf, und er kommt in den Knast. Und jetzt will ich nach Hause. Endlich schlafen, oder es zumindest versuchen.
Gerade noch rechtzeitig höre ich, wie oben die Tür geöffnet wird. Gedämpfte Schritte auf der Treppe ? jemand kommt hierher! Oder sind es mehrere? Ich hechte zurück in den Keller und unter das Kleid. Diesmal kauere ich mich auf das andere Bein. Keinen Moment zu früh. Schon öffnet sich erneut die Kellertür. Ich presse die Nase tief in den weichen Stoff. Melissa betritt den Raum, dicht gefolgt vom Schlüsseltyp. Entschlossen marschiert sie auf die Leiche zu und kappt das Seil. Loni landet mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden, direkt neben Pia. Geradezu gespenstisch sieht sie aus, wie sie da mit leerem Blick und nach hinten hängendem Kopf in die Dunkelheit stiert. ?Okay?, seufzt Melissa, ?dann holen wir jetzt die Kaffeemaschine.? Und damit verschwinden sie, mit schleichenden, eiligen Schritten. Einbrecherschritten.
Was ist bloß in die gefahren? Ein makabrer Scherz? Vielleicht hab ich mich verhört, vielleicht hat der gar nicht ?Kaffeemaschine? gesagt, sondern? was klingt denn so ähnlich wie ?Kaffeemaschine?? Erneut Schritte auf der Treppe. Langsamer diesmal. Was auch immer sie tragen, es muss schwer sein. Mit einem Fußtritt öffnet Melissa die Tür, und die beiden stellen das Ding ab. ?Auf wann hast du den Timer gestellt??, keucht der Typ mit dem Schlüssel. ?Wir haben fünf Minuten?, antwortet Melissa knapp. Hastig verlassen die beiden den Raum und schließen die Tür hinter sich. Ich kann deutlich hören, wie sie die Treppe hochjagen. Dieses Mal werden sie wohl nicht zurückkommen. Die Luft ist rein. Endlich.
Gespannt laufe ich zu dem Etwas, das die beiden hier reingeschleppt haben. Tatsächlich: Es ist eine Kaffeemaschine, und was für eine. Ein richtig modernes, schweres Teil. Ausgeschaltet. Was soll das? Warum machen die sich die Mühe und wuchten das Ding hier runter? Das ist jawohl kein ominöses Bestattungsritual, oder?
In diesem Moment schaltet sich die Kaffeemaschine an. Das Display leuchtet auf. Das Zimmer leuchtet auf. Ich leuchte auf.
Ein Flugzeug mit 200 Passagieren und einem Terroristen an Bord rast auf Berlin zu und wird in Kürze die Bevölkerung der ganzen Stadt auslöschen. Du hast die Möglichkeit, das Flugzeug zu zerstören, bevor es landen wird. Was tust du?
Ein Flugzeug mit 200 Passagieren und einem potentiellen Terroristen an Bord rast auf Berlin zu und wird wahrscheinlich in Kürze die Bevölkerung der ganzen Stadt auslöschen. Du hast die Möglichkeit, das Flugzeug zu zerstören, bevor sich zeigt, ob es tatsächlich auf ein Attentat aus ist. Was tust du?
Angenommen, du bist Mutter und hast drei Kinder. Jemand will die drei Kinder umbringen, es sei denn, du opferst freiwillig ein einziges. Du wirst also vor die Wahl gestellt, eines der Kinder zu opfern, um die beiden anderen zu retten. Was tust du?
Du lebst zur Zeit des Nationalsozialismus und versteckst einen Juden in deinem Haus, dem du versprochen hast, ihn niemals zu verraten. Ein Nazitrupp will eine Hausdurchsuchung durchführen, und es ist sehr wahrscheinlcih, das der Jude in deinem Haus dabei gefunden wird. Der Anführer des Trupps stellt dich vor die Wahl: Wenn du den Juden auslieferst, wird er getötet, dich aber lassen sie am Leben. Wenn du den Juden nicht verrätst, und die Soldaten ihn finden, töten sie euch beide. Was tust du?
Dein Leben kommt dir öde, trist und leer vor. Du siehst keinen Grund mehr, überhaupt weiterzuleben. Ein Unternehmen schlägt dir eine inszenierte Herausforderung, das heißt, einen "Schicksalsschlag on demand" vor. Durch "Zufall", so bieten sie dir an, könntest du auf einer einsamen Insel stranden, Schiffbruch erleiden, in der Wüste verloren gehen, oder ähnliches. Von da an bist du selbst für dein Überleben verantwortlich. Falls du die Sache überlebst, wirst du das bloße Leben danach viel mehr schätzen, und deine momentanen Sorgen mit dem nötigen Abstand betrachten können. Wird das Leben erst dadurch wehrtvoll, dass es durch etwas bedroht wird? Würdest du das Angebot annehmen?
Keine Sorge, diese Fragen haben nichts mit meinem eigenen Leben zu tun, höchstens mit meinem Philosophie-Unterricht. (Und auch mit ein paar Romanideen.) Letztendlich bestimmen wir durch unsere Entscheidungungen, was für ein Mensch wir sein wollen. Würde mich sehr über Stellungsnahmen freuen!!
Willkommen auf der Erde, freut mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen. Darf ich mich vorstellen, ich bin dein potentieller Lebensbegleiter, und das heißt, wir werden gemeinsam durchs Leben gleiten, du kannst dich dann immer an mir festhalten, von Anfang an.
Zu Beginn brauchen wir dazu gar nicht viele Worte, wir werden machen, nicht reden, denn sprechen können wir da noch nicht so gut. Ganz unkompliziert wird das sein, du und ich, wie wir buddeln, basteln, bauen.
Natürlich wird mit der Zeit alles schwieriger, du lernst mehr Menschen und Buchstaben kennen, nur mich kennst du schon, und ich werde dir helfen, mit den Menschen und den Buchstaben klar zu kommen. Ich werde dir zuhören, wenn du mir von deinen Sorgen erzählst, dir Ratschläge geben, mit dir lachen, mit dir streiten und einmal im Jahr deinen Geburtstag feiern. Ich werde dir Komplimente machen und dir den Rücken stärken, mit dir lästern über alle die dümmer oder klüger, hübscher oder hässlicher sind als du. Ich werde dir helfen, herauszufinden, wer du bist, und so zu werden, wie du gern sein würdest.Wenn du krank bist, werde ich bei dir anrufen, und mich nach dir erkundigen. Ich werde dir erzählen, was du verpasst hast, und beteuern, wie langweilig alles ohne dich ist.Wenn du keine Zeit für mich hast, werde ich traurig sein, damit du merkst, dass du gebraucht wirst, denn das wird dir ein gutes Gefühl geben.
Ich werde dir Geschenke machen, aber nicht zu teure, damit du merkst, dass ich mir dich nicht erkaufen will. Aber einpacken werde ich sie, in dunkelgrünes Geschenkpapier, denn ich weiß, das ist deine Lieblingsfarbe, und mit einer Karte versehen, selbstgemalt, mit Mühe und nur das zählt ja. Und du wirst sehen, wie lange ich wohl dafür gebraucht habe, und dich freuen, dass jemand an dich gedacht hat, dass du jemandem wichtig bist.
Wenn wir unterwegs sind, werde ich mich mit dir fotografieren lassen, und alle sehen ?das sind Freunde?, und du wirst diese Fotos lächelnd zeigen, und manchmal auch lachend, denn es werden auch lustige Fotos dabei sein. Und nachher klebst du die Fotos in ein Album, und wenn du alt bist schaust du sie dir wieder an und denkst an die glücklichen Zeiten zurück und das wird dich stärken. Wir werden zusammen ins Kino gehen, und wenn du magst, kannst du die Karten aufbewahren, als Erinnerung.
Später, wenn wir älter sind, werden wir dann auch gemeinsam weg fahren, ganz allein, und das wird ungeheuer spannend, ob wir die Züge kriegen, und was wenn nicht, und vielleicht verpassen wir unseren Zug, aber wir werden eine Menge Spaß haben und es wird ein großes Abenteuer. Und anschließend kannst du davon erzählen, man wird lachen und man wird erstaunt sein über unsere Fahrt, und du kannst auch wieder Fotos zeigen.
Wenn du dann eines Tages heiratest, noch später, dann werde ich dein Trauzeuge sein, und dir helfen alles zu organisieren, und immer wieder sagen, ?ihr werdet bestimmt glücklich?. Und falls ihr euch dann doch trennt, denn das ist ja nicht so unwahrscheinlich, werde ich dich trösten, und für dich da sein, und du kannst in meiner Wohnung unterkommen.
Solange ich da bin, wirst du dich gut fühlen. Aber nur dann, denn ich mache auch abhängig, das solltest du vielleicht wissen.
Ich bin der Schrottplatz, auf dem du deinen Ballast loswerden kannst.
Ich bin die Droge namens Freundschaft.
(Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.)
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Begegnung in der Fußgängerzone (ein Gedicht)
I. Der Straßenpenner an der Ecke
Allein inmitten einer Menge Dem nächsten unerreichbar nah Abgesondert im Gedränge Mit einem Becher als Altar
Die Blicke werden nicht erwidert Absichtlich schauen sie vorbei Als wäre ich mit Teer gefiedert Lautlos schrei ich mein Geschrei
II. Der Helfende
Geschäftig eil? ich durch die Menge Vieles will erledigt sein Seh? den Bettler im Gedränge Halt in meinem Walten ein
Ach, der Ärmste, kann nicht kaufen Kann nur Betteln um sein Geld Schnell, ich werde zu ihm laufen Selbstlos ist der wahre Held
III. Der Einarmige
Wartend steh ich in der Menge Die Zeit vergeht unendlich lahm Such Christine im Gedränge Ein Mann starrt auf den halben Arm
Welch ein schöner Frühlingsmorgen Und ich steh und steh und steh Macht der Mann sich etwa Sorgen?
Da platscht eine Münze in meinen Kaffee.
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Diese Geschichte ist wahr. Sie ist genauso passiert, zumindest erzählt man sich das. Und ich bin froh, das Glück zu haben, 100 Jahre später geboren und nicht Teil dieser Geschichte zu sein.
Zehn aus Zehntausend
Nicht ich, nicht ich. Alle andern nur nicht ich. Ich bin ein Feigling, dass ich sowas denke, aber den Tod fürchtet jeder, da ist jeder ein Feigling, und wenn alle Feiglinge sind, dann ist das vielleicht in Ordnung. Zehn Leute suchen sie aus, zehn Leute müssen heute in den Bunker. Oh Gott. Nicht hier, nicht heute, nicht ich. Der Untersturmbannführer geht die Reihe auf und ab. Zackig, wie einer von Jethros Spielzeugsoldaten, die man hinten aufziehen kann und dann laufen sie genauso. Hin, her, hin, her. Die Menschen senken die Blicke, nur nicht auffallen, nur nicht provozieren. Warten, dass er auch an ihnen vorbeigeht, er soll auf keinen Fall stehen bleiben, auf keinen Fall vor mir. ?Du, Nummer 37240, vortreten.? Er zeigt auf einen mageren alten Mann mit zerbrochener Brille. Noch neun, schießt es mir durch den Kopf, und im selben Moment schäme ich mich dafür. ?Und wenn noch eine Judensau zu fliehen versucht?, schreit der Untersturmbannführer, ?sind es das nächste Mal zwanzig, die dafür sterben müssen!? Damit marschiert er weiter die Reihen entlang. Sucht wahllos aus der schwarzweißgestreiften Menge aus. Nummer 1293. Noch acht. Nummer 13982. Noch sieben. Nummer 2342. Noch sechs. Nummer 23487. Noch fünf. Als er auf Nummer 124902 deutet bricht kurz Chaos aus, denn der ist noch jung und kräftig, und seine Frau fängt an zu weinen und zu schreien, und sich an ihn zu klammern, aber als die Soldaten mit der Waffe auf sie zielen, lässt sie ihn los und der Untersturmbannführer kann mit seiner Auswahl fortfahren. Vier fehlen ja noch. Jetzt noch drei. Noch zwei. Und dann nur noch einer, aber dafür fühlen sich meine Beine plötzlich so schwach und dünn an, denn jetzt bleibt er genau vor mir stehen. ?Du?, sagt er und zeigt auf einen Mann direkt neben mir, was unangenehm ist, denn so bekomme ich mit, wie er seine Hose durchnässt. Ein erwachsener Mann, gebrochen, durch ein einziges Wort. Und es fehlt immer noch einer. Einer noch muss heute sterben, in dem Bunker, aus dem man immer die Schreie hört. ?Du?, sagt er wieder, und noch immer steht er so nah vor mir, dass ich seinen staubigen Atem riechen kann. Doch ich habe Glück, er zeigt nicht auf mich. Er zeigt auf meinen Vater.
?Nein!?, schreie ich und die Tränen kommen ganz von selbst. ?Nein!?, schreit meine Mutter, ?bitte, bitte nicht, wir brauchen ihn doch!? Jethro schreit nicht, klammert sich nur an seinem Bein fest. Mein Vater schreit auch nicht, aber ich kann die Verzweiflung in seinen Augen sehen, und auch die Angst. Um sich und um uns, denn wer soll nun für uns sorgen? ?Vortreten, Judensau?, brüllt der Untersturmbannführer, doch jemand anders brüllt lauter. ?Lassen Sie den Mann leben!? Einer der Häftlinge ist vorgetreten. Ziemlich blass und dünn ist er, aber das sind wir ja alle. ?Ich werde für ihn sterben. Das macht für Sie doch keinen Unterschied, oder?? Der Untersturmbannführer stutzt. Dann zuckt er die Achseln. ?Na schön, mir ist es gleich. Dann stirbst eben du für ihn. Judensau.?
Und damit lässt er sie abführen. Die neun Ausgewählten, und den Wahnsinnigen mit der Nummer 16670, der freiwillig in den Hungerbunker geht. Plötzlich ist mir der Gedanke unerträglich, dass nur eine Nummer von diesem Menschen übrigbleiben wird. ?Wie heißt du??, frage ich ihn, kurz bevor, die Soldaten ihn wegbringen. ?Du bist doch kein Jude, oder?? Der Mann lächelt traurig. ?Ich heiße Maximilian Kolbe. Und ich bin Priester.?
Nur für die, die es vielleicht interessiert: Vergessen wurde Häftling Nummer 16670 tatsächlich nie. Nur 41 Jahre später wurde er heiliggesprochen, unter Anwesenheit der Familie, die er durch seinen Tod rettete.