Da es schon einen Thread fürs frühere Ich gibt, jetzt auch für das spätere...

Mir macht es so den Anschein, als ob sich jedeR hier zu einem gewissen Maße gegen die Gesellschaftsnormen sträubt, "anders" sein will, "anders" ist. Selbstverwirklichung hat für euch anscheinend auch oberste Priorität. Das ist ja auch gut so. Aber ich frage mich, wie lange das noch so geht. Wann dann das große erwachen kommt, und ihr (wir) uns von dem Traum verabschieden müssen. Okay, ich klinge pessimistisch, das ist wahr. Aber irgendwie auch realistisch? Gehen wir von der Annahme aus, dass jedeR mal das machen will, was ihm/ihr Spaß macht. Sei es Kunst, Musik, Sport, Reiseschriftstellerei, whatever. Selbstverwirklichung also. Wir beginnen zu studieren. Interessensstudium natürlich. Dann sind wir fertig und müssen feststellen, dass es keinen Job gibt, der uns irgendwie gefallen könnte und das generell alles sehr kompliziert ist. Wir müssen uns entscheiden, ob wir 40 Stunden arbeiten, was uns nicht wirklich gefällt, was vllt nicht mal viel Geld einbringt, ob wir mit Partner und vllt Kindern in ein schönes Haus im grünen ziehen, 4 Woche Urlaub im Jahr, etc..oder ein Leben außerhalb der Konventionen führen, uns auch weiterhin selbst verwirklichen, verrückte Sachen tun, immer auf Achse sind, in der Welt herumreisen. Aber dazu brauchen wir dann eben auch Geld. Geld, das (ich setze voraus) erst verdient werden muss. Mit Kunst, Musik, Sport, Schriftstellerei? Zugegeben machbar, aber sehr schwer und nur für die allerbesten irgendwie erreichbar. Vorbei mit der Ungezwungenheit, hallo Realität. Was werdet ihr dann tun? Oder einfach mal ganz positiv aufs Glück hoffen? Oder wie und wo seht ihr euch in 5,20,50 Jahren?

Um mal ganz subjektiv darauf zu antworten:

Ich vertrete nicht unbedingt diesen Anspruch, zumindst nicht in der Form, wie du ihn gerade (ein wenig zugespitzt) dargestellt hast.
Und ich denke, dass auch die meisten anderen, abgesehen von den Träumen, die Träume bleiben dürfen müssen, schon mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, was das betrifft.

Jedem stellt sich wohl an einem bestimmten Punkt die Frage nach der Selbstverwirklichung, und natürlich hat man ab und zu ein Bild von sich im Kopf, das bei bestem Willen nur als utopisch zu bezeichnen ist.
Für jeden Lebensentwurf muss man andere Träume aufgeben, das ist doch ganz logisch. Wer sesshaft werden und eine Familie gründen will, die ihm bestimmt unglaublich viel Liebe und Freude über die Jahre geben wird, der muss auf manches Abenteuer verzichten... Und wer die Welt sehen will, immer neue Menschen kennenlernen, andere Länder besuchen... der sollte vielleicht keine Kinder bekommen, denn dieses Leben ist meines Erachtens nicht gut für Kinder. Kinder brauchen Beständigkeit. Man läuft also Gefahr, dass alle Freundschaften, alle Beziehungen zu anderen Menschen stets nur recht oberflächlich bleiben, man vielleicht irgendwann alt wird und einsam ist.
So oder so ähnlich könnten die beiden Extreme bezüglich Lebensentwürfe aussehen... und dazwischen gibt es noch so unendlich viel mehr Möglichkeiten.
Man muss sich entscheiden, sich darüber klar werden, was einem wichtiger ist, und was man alles dafür aufzugeben bereit ist.

Mein persönlicher Anspruch an das Leben ist wohl, dass ich nicht umsonst gelebt haben will. Und wenn es nur kleine Veränderungen sind, irgendetwas Gutes will ich erreicht haben, etwas aufgebaut, etwas verändert.
Dafür studiere ich Medizin, und ich denke schon, dass ich in eher "geregelten" Bahnen leben werde, sicherlich auch, weil ich für manches nicht mutig genug bin.
Ich halte mir das vor Augen, wenn ich herumsitze und trockenen Stoff pauke, wenn ich keine Pläne für die Sommerferien schmiede (dabei gibt es so viele Orte, an die ich gerne mal möchte), weil ich weiß, dass ich in dieser Zeit im Krankenhaus Praktikum machen werde, zwei Monate lang in geschlossenen, muffigen Räumen, während draußen Sommer ist.
Aber na und? Ich weiß, dass mich diese Arbeit glücklich macht, selbst wenn sie nicht das ist, was man normalerweise unter einer schönen Zeit versteht. Das ist es, was für mich zählt.

Und natürlich ist das alles nur der Weg zu einem höheren Ziel, wenn ich könnte, würde ich sofort anfangen, zu arbeiten, aber so ist es nunmal, und ich finde mich damit ab, weil ich weiß, dass es das ist, was ich mehr möchte als alles andere.

Ich wollte immer was mit Sprachen machen, und Sprachen sind das, was ich am besten kann, aber ich hab mich auf dem Arbeitsmarkt dafür umgeschaut und festgestellt, dass es nichts gibt, was ich damit anfangen könnte (und auch gerne täte). Also schlummern meine zweieinhalb Fremdsprachen jetzt mehr oder weniger unbrauchbar in meinem Kopf. Das ist natürlich schade... Aber was hätte es mir gebracht, wenn ich sie studiert hätte, einen Abschluss erworben, nur um am Ende doch irgendwo zu landen, wo ich mich nutzlos fühle? Wo ich den Eindruck hätte, nichts bewegen und niemandem helfen zu können?

Die Welt zu sehen ist schön, aber man sieht auch viel Elend und Not, und das einfach nur zu betrachten und dann wieder wegzufahren, so möchte ich nicht leben.
Dann reise ich lieber weniger und baue mir dafür an einem festen Ort etwas auf, wo ich auch wirklich etwas tun kann. Mich selbst einsetzen.
Und somit habe ich mich eigentlich schon entschieden, was mir wichtig ist, bin Kompromisse eingegangen und habe dafür Träume aufgegeben, und dennoch bin ich nicht oft traurig deswegen, weil ich versuche, mir jeden Tag von neuem vor Augen zu führen, wofür ich dankbar sein kann und was ich alles habe, und dass es das ist, was gut für mich ist.

"Selbstverwirklichung" ist ein viel zu großes, sperriges Wort. Ich will ja nicht nur mich selbst leben. Da könnte ich mir auch gleich die Kugel geben, da würde ich der Gesellschaft wahrscheinlich mehr mit helfen, ein Individuum weniger, das Importprodukte konsumiert, Abfall produziert, den Eltern auf der Tasche liegt und sich die Lebenshilfe von der Krankenkasse bezahlen lässt.

Somit bin ich zum Ende gekommen, und wollte nur noch hinzufügen, dass ich es ein bisschen schade finde, wie du in deiner Formulierung alle in einen Topf wirfst, als wäre jeder einzelne von ihnen ein naiver Träumer mit Realitätsverlust. Dem ist bestimmt nicht so. Wenn man über Träume spricht, und das tut man ja sehr oft, heißt das noch lange nicht, dass man auch wirklich vorhat, genauso zu leben. Das ist uns bewusst. Hier besteht ein kleiner, aber feiner Unterschied, den wahrzunehmen sehr wichtig ist.

Danke, und noch einen herrlichen sonnigen Dienstag

Lea

Zitat von ShangriLa

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Aber ich frage mich, wie lange das noch so geht. Wann dann das große erwachen kommt, und ihr (wir) uns von dem Traum verabschieden müssen.

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Für viele kommt dieses Erwachen, glaube ich, wenn sie sich für ein Studium/ eine Ausbildung entscheiden müssen. Die meisten beginnen wohl kein Interessenstudium ohne sich vorher über die Berufsmöglichkeiten informiert zu haben. Auf die Frage Traumberuf habe ich auch schon von mehreren die Antwort "Fotograf, aber das klappt sowieso nicht" gehört.

Zu dem "Anderssein": Man kann sich doch auch in kleinen Dingen verwirklichen. Reisen, Garten, in der Freizeit malen/ schreiben/ Musik machen... Viele Künstler haben zuerst einen Brotberuf gehabt und sich erst später (oder nie) ganz auf ihre Kunst konzentriert.

Persönlich wünsche ich mir für die Zukunft auch eher Sicherheit als Abenteuer. Und wie Kleo schon gesagt hat:

Zitat von Kleo

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Mein persönlicher Anspruch an das Leben ist wohl, dass ich nicht umsonst gelebt haben will.

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Zitat

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Für viele kommt dieses Erwachen, glaube ich, wenn sie sich für ein Studium/ eine Ausbildung entscheiden müssen.

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Noch heftiger ist es beim Kinder bekommen, die meisten meinen dann, jetzt wären sie endgültig alt...

Das große Erwachen... ich weiß nicht, ich mach mir da nie Gedanken drüber, ich bin immer froh wenn im Jetzt alles so läuft wie ich es will. In 5 jahren seh ich mich vermutlich an irgend ner Uni im Chemielabor, in 10 Jahren vielleicht immernoch, da ich keine Ahnung hab, was genau ich damit mache. Vielleicht bin ich auch Filmregisseur in Hollywood, wobei dieser Traum nicht ganz realistisch ist. Aber erstmal mach ich Schule fertig, das reicht als nächstes großes Ziel.

Das mit dem Geld ist als Chemiker ganz gut, mein Wunsch geht in Erfüllung und gut bezahlt wird man in den Naturwissenschaften auch...

Klar, als (angehender) Naturwissenschaftler muss man sich um Dinge wie Arbeitsplatzsuche oder Gehalt weniger Gedanken machen als die meisten Leute im geisteswissenschaftlichen Bereich. Insofern könnten wir uns glücklich schätzen. Literaten und Philosophen sind ja doch meist noch während des Studiums recht unsicher darüber, was man denn mit dieser Art Bildung "später machen will", und ob es dem entspricht, was man eigentlich gerne möchte, wissend, dass der "Traumjob" vielleicht gar nicht in dieser Art existiert, oder man damit gar nicht genug Geld zum Leben verdienen kann, und irgendwann möchte man ja doch mal Entspannung haben, sich sicher fühlen und nicht immer um das Morgen bangen müssen, nicht noch mit 40 die Eltern anpumpen, weil man die Miete allein nicht bezahlt kriegt.
Vielleicht stempele ich an dieser Stelle zu sehr ab, blicke von einem (hoffentlich) gesicherten Standpunkt aus auf Leute, die einfach in einem anderen Bereich unheimlich gut sind. Vielleicht hab ich, was das angeht, mehr Glück als Verstand, doch ich möchte dankbar dafür sein.

Allerdings hab ich schon manchmal das Gefühl, dass ich geistig ein wenig verkümmere, dass die Anatomie ein bisschen den Tiefsinn auffrisst, dass es manchmal schwer ist für mich, nach dem ganzen Lernen noch so etwas wie Kreativität aufzubringen, dass ich mich oftmals komisch fühle zwischen den anderen in meinem Studiengang, als jemand, der sowas tut wie Briefe schreiben oder ein Instrument lernen und Dinge wie Plattenspieler, vegane Ernährung und Campen in der Wildnis mag. Ich bin bei weitem nicht so "alternativ" wie andere (Gott, wie ich dieses Wort hasse), und dennoch zu abgehoben-weltfremd für die meisten Menschen, mit denen ich größtenteils (gezwungenermaßen) zu tun habe. Ich bin einfach nicht praktisch genug.
Egal, in welcher der beiden Welten ich mich gerade befinde, ich fühle mich immer zum Teil ein wenig fremd. Und das gilt eigentlich für alle Lebensbereiche. Ich kann überallhin, aber niemals zu 100% dazugehören, weil das doch irgendwie bedeuten würde, die anderen Bereiche aufzugeben.

Also bin ich froh, in einem naturwissenschaftlichen Studiengang zu sein, weil ich glaube, dass ein geisteswissenschaftlicher mich in Sachen Kreativität bei weitem überfordern würde. Da könnte ich auch nicht mithalten.

Solange ich mein abgehobenes, weltfremdes Zeug so nebenher behalten darf und nicht gezwungen bin, es vollkommen zu vernachlässigen, solange ich noch manchmal mit dem Kopf in den Wolken stecken und an Geister glauben darf und Schicksal, obwohl ich alles auch irgendwie rational betrachte... Dann geht es, dann kann ich damit leben. Vielleicht kann es mir in meinem späteren Beruf auch mal helfen. Ich möchte die Fähigkeit nicht verlernen, mich in Leute hineinversetzen zu können, obwohl ich genau davor ziemliche Angst habe. Weil das scheinbar allen Medizinern irgendwie, irgendwann passiert. Aber ich bleibe naiv und glaube daran, dass das vielleicht doch irgendwie klappen könnte. Weil ich eben eine Träumerin bin. Und das ist meistens ziemlich unpraktisch in diversen Lebenssituationen.

Zitat

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Allerdings hab ich schon manchmal das Gefühl, dass ich geistig ein wenig verkümmere

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Aber ich glaube, man kann garnicht ganz verkümmern, höchstens ein bisschen einrosten. Denn irgendwo in deinem Gehirn sind diese Dinge ja abgespeichert, man findet sie nur nicht gleich wieder. Wenn ich eine Weile nicht geschrieben habe, geht es mir ähnlich. Zuerst staksen die Worte und ich stolpre über banale Satzkonstruktionen. Doch mit der Zeit geht es immer besser, es fließt wieder, so wie früher. Es braucht eben nur etwas länger.

Zitat

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Ich bin bei weitem nicht so "alternativ" wie andere (Gott, wie ich dieses Wort hasse), und dennoch zu abgehoben-weltfremd für die meisten Menschen, mit denen ich größtenteils (gezwungenermaßen) zu tun habe.

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Genau so komme ich mir auch immer vor. Man sitzt dann so zwischen den Stühlen und kann sich nie richtig einordnen. Schrecklich.

Zitat

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Oder einfach mal ganz positiv aufs Glück hoffen?

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Passiv positiv aufs Glück hoffen und aktiv etwas dafür tun. Und passiv positiv hoffen, dass es auch so sein wird.
Man kann ja sowieso nicht immer glücklich sein. Manchmal braucht man Schmerz um das Glück überhaupt wieder sehen zu können, vorallem das kleine Glück. Es gibt ein Zitat (ich glaube aus Hectors Reise) das besagt, dass Glück nicht das Ziel ist. Den stimme ich vollkommen zu. Aber ein bisschen Glück darf man sich ja auch noch wünschen.

Mein zukünftiges Ich... ich schätze, es wird glücklicher sein. Endlich das machen, was mir Spaß macht. Selbstbewusster? Unabhängiger. Verantwortungsvoller?

Es wird sich auf jeden Fall einiges verändern. Vom Dorfkind zur Mathe studierenden Berlin-Bewohnerin. Da ist es unausweichlich, dass auch der Charakter ein bisschen verändert wird, schätze ich mal.

Aber ich lasse das einfach auf mich zukommen...